Der Watzmann - Dauerbrenner in alten Sagen wie in der Tagespresse. Abweisend thront der Steinkoloss über dem malerischen St. Bartholomä am Wolfgangsee. Am 6. Juni 1881 wurde erstmals seine Ostwand bezwungen.
Großfamilien sind selten geworden. Kein Wunder. Sie brauchen viel Platz, wegen der "erhöhten Kohortenfertilität". So nennt es der Fachmann, wenn mehr als drei Nachkommen da sind, was in Großfamilien ja häufiger vorkommen soll. Aber wohin mit all den Leuten? Früher war das einfacher. Im Berchtesgadener Land zum Beispiel, da hauste einst ein grausamer König namens Waze samt Weib und sieben Kindern. Unangenehme Leute sollen das gewesen sein! Die Großfamilie tyrannisierte nämlich die ganze Gegend, bis der liebe Gott ein Einsehen hatte und die Bagage zur Strafe für immer in Felsen verwandelte. Danach allerdings durften sich die Watzmanns erst recht Großfamilie nennen: 2.713 Meter groß der Vater. Die Mutter 2.307 Meter. Und die Kinder auch nur unwesentlich kleiner. Sieben Sprösslinge waren es in der Sage, die Fruchtbarkeitsziffer stimmte also auch bei den Watzmanns. Obwohl man bei ihnen wohl besser von "Furchtbarkeitsziffer" sprechen sollte. Denn allein der Vater mit seiner berühmt-berüchtigten Watzmann-Ostwand forderte bis zum Jahr 2010 bereits 100 Todesopfer. Und es werden ständig mehr.
Malerisch und tödlich
Die Erstbegehung dieser höchsten Felswand der Ostalpen ereignete sich übrigens am 6. Juni 1881. Von einem der malerischsten Flecken Bayerns aus, von St. Bartholomä am Königsee, machen sich an jenem Tag zwei nicht mehr ganz junge Männer auf den Weg, um die 1.800 Meter hohe, gewaltige Ostwand des Watzmann zu bezwingen. 14 Stunden sind der Wiener Otto Schück und der Bayer Johann Grill unterwegs. Grill, der aus Ramsau bei Berchtesgaden stammt, wird meist nur bei seinem Hofnamen gerufen: der Kederbacher. Der Kederbacher ist damals schon 46 Jahre alt. Ein erfahrener Bergsteiger also, der auch außerhalb des Berchtesgadener Landes oft unterwegs ist und schon so manchen Gipfelsturm hinter sich hat. Als erster offiziell genannter deutscher Bergführer sichert er sich seinen Platz in den Geschichtsbüchern des Alpinismus.
Die Route, die Kederbacher und sein Kollege damals gehen, gilt bis heute als Klassiker und trägt den Ehrennamen Kederbacher-Weg.
Verschärfte Kletterei bis zum vierten Schwierigkeitsgrad, große Eisfelder, Bergschründe und Steinschlaggefahr - es ist eine Route für erfahrene Bergsteiger, denn das Gelände ist unübersichtlich, schnell kommt man in extrem unangenehme Situationen, und schlechtes Wetter kündigt sich oft erst an, wenn es schon da ist.
Schicksal und Stöckelschuhe
Nichts für Stöcklschuh-Alpinisten also, dieser Schicksalsberg, der gern besungen wird. In einem Musical über den unheimlichen Familienvorstand heißt es: "Der Berg, der kennt koa Einsehn nit". Zurecht, denn ein bis zwei Menschenopfer im Jahr nimmt er, der steinerne König. Wenig Einsehen haben allerdings auch die Bergsteiger; jedes Jahr versuchen 300 bis 500 von ihnen ihr Glück und besteigen die Ostwand, um den großartigen Blick auf den Königssee genießen zu können.