Er landete in der Donau, anstatt am anderen Ufer. Am 31. Mai 1811 scheiterte der Schneider von Ulm bei seinem spektakulären Flugversuch vor großem Publikum. Heute weiß man, warum.
"Schuster bleib bei deinen Leisten" heißt es schnell, wenn einer höher hinaus will als es ihm vermeintlich zusteht. Zu Albrecht Ludwig Berblinger hätte man sagen können: "Schneider bleib bei deinem Leinen! Was willst du denn noch? Du bist vom Waisenkind zum Schneidermeister geworden, hast eine Frau und sechs Kinder, vier Gesellen, ein schönes Haus, Geld und Grund. Hör also auf mit deiner Spinnerei vom Fliegen!"
Ein Vogel werden
So oder so ähnlich hat man auch sicher zu Berblinger gesprochen - doch ohne Erfolg. Und so fragen wir uns heute noch: Warum ließ dieser Mann nicht los von der Idee, mit nachgebauten Flügeln ein Vogel werden zu können? War es der uralte Traum vom Fliegen, der den Menschen unauslöschbar innezuwohnen scheint? War es das Wissen, um die persönlichen Fähigkeiten auf dem Gebiet der Mechanik? Schließlich war es Berblinger bereits gelungen, eine Beinprothese zu konstruieren, die erste ihrer Art. War es die Neugier, die in seinem Elternhaus geweckt worden war, als der Vater noch lebte? Bevor er ins Waisenhaus kam, wuchs Berblinger in einem Zeughaus auf, in dem er allerhand kunstvolle Geräte bestaunen konnte. Oder war es einfach ein unbewusstes Sehnen, eine leise Ahnung von Freiheit - fern der gesellschaftlichen Zwänge? Der Wunsch und das Vergnügen seine Neigungen auszuleben, sich selbst vertrauen zu dürfen und nicht den Dogmen seiner Zeit?
Wir wissen es nicht. Sollte er dies alles gedacht haben, so trifft der Titel des Romans, den Max Eyth 77 Jahre nach Berblingers Tod über ihn geschrieben hat, auf alle Fälle zu: "Der Schneider von Ulm. Geschichte eines zweihundert Jahre zu früh Geborenen". Eines wollte Berblinger mit seinem aus Fischbein, geleimten Holz und Seide gebauten Hängegleiter auf alle Fälle nicht: betrügen. Doch genau das wurde ihm am 31. Mai 1811 zum Vorwurf gemacht, als er vor den Augen einer Menge von Schaulustigen und in Anwesenheit von Herzog Heinrich von der Adlerbastei nicht - wie versprochen - über sondern in die Donau segelte. Ein Sturz, der fünf Sekunden dauerte und Berblingers gesellschaftlichen Tod bedeutete.
Kein Aufwind
Dabei war sein Fluggerät durchaus funktionsfähig, mehrmals war er damit schon vom Ulmer Michelsberg hinab durch die Luft geschwebt. Doch leider wusste Berblinger nichts von den Gesetzen der Thermik und den über der Donau fehlenden Aufwinden. Wo die Sonne keine Erde erwärmen kann, können sich auch keine warmen, tragenden Aufwinde bilden. Tragisch, das Fluggerät des Schneiders hätte also überall funktionieren können, am schlechtesten aber über einem breiten Fluss. Kaum aus dem Wasser gefischt, wurde er verspottet und verlacht. Kein Kunde ließ sich mehr in seiner Schneiderei blicken, er konnte gesellschaftlich nie wieder Fuß fassen und wurde 1829 in einem Armengrab verscharrt.