Ein Glücksfall? Oder gar ein Wunder? Am 25. Juni 1094 wurden im Markusdom in Venedig die Gebeine des Evangelisten Markus entdeckt. Wie sie dort überhaupt erst hinkommen konnten, hat dagegen sehr klare Gründe.
Rettungslos Verliebte können ein Lied davon singen: Große Gefühle können ganz nonchalant auf eine reale Basis verzichten. Bürochef Frank-Uwe überreicht seiner neuen Azubine Kathi zum Einstand ein Blumensträußchen, und fortan betrachtet Kathi Frank-Uwe als ihren heimlichen Liebhaber, obwohl der glücklich verheiratet ist und überhaupt nicht auf Teenies steht. Na und? Kathi weiß genau, der Kerl tut nur so. In Wirklichkeit hat er ihr mit dem Grünzeug sein in Leidenschaft entbranntes Herz zu Füßen gelegt.
Vornehme Venezianer, poröse Knochen
Dieselbe Funktion wie so ein unschuldiges Blumensträußchen können Gesteinstrümmer, vergilbte Urkunden, poröse Knochen haben, wenn sie nur alt genug sind oder aussehen. Wissenschaftler sprechen in diesem Fall nicht von Einbildung, sondern vornehm von einem Mythos. Und weil die Venezianer immer schon vornehme Leute waren, kann man die Geschichte von so einem Mythos besonders gut in Venedig verfolgen, der zauberschönen Serenissima.
Doch die alten Venezianer waren nicht nur vornehm, sondern auch schlau, machtbewusst und geschäftstüchtig. Deshalb erfanden sie kühl kalkulierend zuerst den Mythos, die handfeste Grundlage würde man schon irgendwann nachliefern können. Venedigs Mythos hieß Markus. Markus aus Jerusalem, angeblich von Petrus zum Christentum bekehrt und später dessen Dolmetscher, weil er Griechisch konnte. Markus, angeblich der Verfasser des frühesten Evangeliums und Gründer der Christengemeinde von Alexandria, wo man ihn mit einem Strick um den Hals zu Tode schleifte.
Alles ziemlich legendär; macht nichts, dachten die Venezianer und setzten ihre eigene Legende noch mit drauf: Im Verlauf einer Missionsreise habe dieser großmächtige Markus die damals noch sumpfigen, öden Rialto-Inseln betreten und visionär den künftigen Glanz von Venedig gesehen.
Doch noch war der Venedig-Aufenthalt des Heiligen eine bloße Behauptung. Beweise mussten her. Also entführten ein paar tollkühne venezianische Seefahrer um die Jahreswende 827/28 das Skelett des Evangelisten Markus - oder was man dafür hielt - aus Alexandria; ob man die Reliquien den dortigen Mönchen gegen Geld abschwatzte oder mit Gewalt raubte, ist nicht bekannt. Ob die Knochen echt waren, danach fragte niemand; Hauptsache, man hatte den kostbaren Schutzpatron endlich in Venedig.
Findige Mythenerzähler
Als 150 Jahre später bei einer Palastrevolution die Markuskirche in Flammen aufging, verbrannten natürlich auch die Reliquien. Doch die Mythenerzähler wussten Rat: Der Doge habe, schon als sich die Rebellion abzeichnete, die Überreste des heiligen Markus heimlich in einen Pfeiler der später ausgebrannten Kirche einmauern lassen. Und dort seien sie mit ihrer Wunderkraft immer noch, wenn auch keiner ihren Platz kenne.
Nächster Akt des Schauspiels: 1094, der wiederaufgebaute Markusdom wird eingeweiht - und siehe da, am 25. Juni entdeckt man ganz zufällig die kostbaren Gebeine in einem stehen gebliebenen Pfeiler des Vorgängerbaus. Weh dem, der Böses dabei denkt. Die Markus-Legende unterfütterte jedenfalls den fantastischen Aufstieg von Venedig zur See- und Handelsmacht mit frommer Ideologie und legitimierte so manche Gewalttat, es geschah ja alles zu Ehren des himmlischen Schutzpatrons.