Anna Sutter war "eine der genialsten Soubretten" schwärmten Nachrufe, doch von einem Mann wurde sie zu sehr geliebt: Zuerst wurde sie Stalking-Opfer, dann, am 29. Juni 1910, wurde die Kammersängerin erschossen.
Heute kann eine Frau zur Polizei gehen. Sie kann einen lästigen Verehrer anzeigen, wenn er nicht aufhört, ihr nachzustellen. Sie kann eine gerichtliche Unterlassungsverfügung erwirken, und wenn sich der Verfolger nicht daran hält, riskiert er eine Gefängnisstrafe. Denn so eine Jagd nach Liebe ist keine Privatangelegenheit verschmähter Galane, sondern ein Delikt und eine gefährliche Sache. Weil es bei unwillkommenen Aufmerksamkeiten oft nicht bleibt. Auch nicht bei Drohungen und Schikanen. Manche Nachstellung endet mit einer Bluttat. - "Stalking" heißt das neuerdings, aber die Sache selbst ist so neu nicht.
"Künstlertragödie" mit zwei Toten
Am 29. Juni 1910 meldeten Stuttgarter Extrablätter eine "Künstlertragödie" mit zwei Toten. Dr. Aloys Obrist, Kapellmeister am königlich-württembergischen Hoftheater, hatte die Kammersängerin Anna Sutter und sich selbst erschossen.
Ein Nachruf preist die 39-Jährige als "eine der genialsten Soubretten" und als "ganzes Weib". Das Operetten-Publikum schmolz dahin, wenn sie die Titelrolle der Lustigen Witwe sang. Opernliebhaber lagen ihr zu Füßen, wenn sie die Carmen gab oder die verruchte Salome. Die biederen Stuttgarter liebten die lebenslustige Diva so sehr, dass sie ihr Schulden, Liebesaffären und zwei uneheliche Kinder verziehen.
Ihr Mörder, Aloys Obrist, gastierte als Kapellmeister. Ein gut aussehender, geistreicher und melancholischer Mittvierziger. Das Leben war ihm einiges schuldig geblieben. Früh hatte er - auf Wunsch seiner Mutter - eine elf Jahre ältere Schauspielerin geheiratet, die ihm zuliebe ihre Karriere aufgab. Die Ehe wurde nicht glücklich. Berufliche Erfolge waren ihm immerhin beschieden: als Musikwissenschaftler, Kenner und Förderer zeitgenössischer Musik und Kapellmeister. Aber das sprühend Geniale, das Anna Sutter ausstrahlte, das fehlte ihm.
Was für sie nur ein Intermezzo war, bedeutete für ihn Liebe, Leidenschaft und die Verheißung eines glücklichen, erfüllten Künstlerlebens.
Sie hatte ihm den Elan seiner Jugend wieder geschenkt. Nun wollte er sie retten, sie heiraten. Nur war Anna Sutter keine Frau, die einen selbst ernannten Retter brauchte. Bald hatte sie den schwerblütigen Kapellmeister satt und einen neuen Liebhaber. Obrist konnte nicht fassen, dass es vorbei war. Anna Sutter verbat sich weitere Annäherungsversuche. Sie untersagte ihm schließlich auch, zu ihren Vorstellungen zu kommen - für Obrist die ultimative Demütigung. Seine Ehe, seine bürgerliche Existenz hatte er für sie geopfert, alle Brücken abgebrochen! In seiner Verbitterung stieß er sogar Morddrohungen aus, aber niemand traute dem sonst so höflichen, kultivierten Mann eine solche Untat zu.
Unvergessenes "Sutterle"
Zum Äußersten entschlossen, unternahm Obrist einen letzten Versuch, die Frau seines Lebens umzustimmen. Mit einer Browning in der Jackentasche und einem Blumenstrauß in der Hand klingelte er am Vormittag des 29. Juni 1910 an ihrer Wohnungstür. Er schob das Dienstmädchen, das ihm den Weg verstellen wollte, beiseite, drang in Annas Schlafzimmer ein und setzte ihr die Pistole auf die Brust. Als sie sich immer noch weigerte, schoss er. Und feuerte den Rest des Magazins auf sich selbst ab. Von fünf Schüssen ist am nächsten Tag in den Zeitungen die Rede, dicht beieinander in der Brust.