Im Ersten Weltkrieg pflegte die britische Krankenschwester Edith Cavell nicht nur alliierte Soldaten, sie verhalf ihnen auch zur Flucht nach Hause. Am 12. Oktober 1915 wurde sie als Spionin von den Deutschen hingerichtet.
London, im Mai 1919. Der erste Frühling nach Ende des Kriegs. Ein bemerkenswerter Trauerzug bewegt sich durch die Straßen. Ein Staatsbegräbnis für eine Krankenschwester, deren sterbliche Überreste mehr als drei Jahre nach ihrem gewaltsamen Ende heimgebracht werden. Tausende Menschen erweisen Edith Cavell die letzte Ehre, als ihr Sarg, in den Union Jack gehüllt, nach Westminster Abbey geführt wird.
Krankenschwester und Spionin?
Edith Cavell. Das Inbild einer britischen Oberin: groß, schlank, aufrecht, gutaussehend, unverheiratet. Haare streng aus dem Gesicht frisiert, Haube, Schwesterntracht. 1907 hatte sie in Brüssel ein Lehrkrankenhaus eröffnet, in dem sie professionell und auf hohem Niveau Krankenschwestern ausbildete. 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Deutsche Truppen besetzten Belgien. Cavells Krankenhaus wurde ein Rotkreuz-Lazarett, in dem verwundete Soldaten aller Nationen gepflegt wurden.
Abgestoßen von den Gräueltaten des Krieges schloss Cavell sich einer Untergrundorganisation an, die britischen, belgischen und französischen Soldaten half, durch die feindlichen Linien über die Grenze ins neutrale Holland zu fliehen. Doch im Sommer 1915 wurde das Netzwerk verraten und den Verantwortlichen der Prozess gemacht. Edith Cavell wurde vom deutschen Militärgericht als Spionin zum Tode verurteilt. In den frühen Morgenstunden des 12. Oktober 1915 erhob sich Nurse Edith Cavell, wusch sich, legte die Kleidung an, die sie in den vergangenen Wochen während ihrer Gerichtsverhandlung getragen hatte - blauer Rock, weiße Bluse, goldene Brosche, steckte ihre Haare mit einem Kamm zusammen, machte ihr Bett und räumte ihre Zelle auf. In Begleitung eines Geistlichen wurde sie zum Exekutionsplatz gefahren und dort erschossen.
Militärarzt Gottfried Benn
Dem anwesenden deutschen Militärarzt verdanken wir einen Augenzeugenbericht des grausigen Vorgangs. Es ist der Dichter Gottfried Benn, der kurioserweise wie Edith Cavell aus einem protestantischen Pfarrhaus stammt. Dreizehn Jahre später beschreibt er erschütternd emotionslos, wie er Miss Cavell, die noch aufrecht am Pfahl steht, abnimmt und ihren Tod feststellt. Ihre Verletzungen, so konstatiert er mit der Kälte eines obduzierenden Mediziners, beträfen vor allem Lunge, Herz und Brustkorb. Er drückt ihr die Augen zu und legt sie in den bereitgestellten gelben Sarg.
Die Hinrichtung Cavells löste weltweit einen Aufschrei der Empörung aus, und das britische Propagandaministerium instrumentalisierte den Fall für seine Zwecke. Postkarten mit ihrem schmalen Gesicht forderten die Bevölkerung dazu auf, sich als ebenso heroisch wie Cavell zu erweisen, oder doch wenigstens Kriegsanleihen zu zeichnen. Die Zahl der Kriegsfreiwilligen in England verdoppelte sich in den Wochen nach ihrem Tod.
Edith Cavell wäre diese Heroisierung nicht recht gewesen. Sie, eine Märtyrerin? Sie hatte doch nur ihre Pflicht als Krankenschwester getan. Sicherlich war es in ihrem Sinne, mit den Worten erinnert zu werden, die auf ihrem Denkmal am Trafalgar Square in London eingemeißelt sind. Worte, die sie kurz vor ihrer Hinrichtung zu ihrem Geistlichen sprach: Ich weiß, dass Patriotismus nicht genug ist. Man muss auch den Hass überwinden.