Amala und Kamala hielten sich selbst für Wölfe, als sie eines Tages von Mitmenschen im indischen Dschungel aufgespürt wurden. Dann sollten sie zivilisiert werden. Zuerst starb daran Amala, dann Kamala, am 14. November 1929.
Es war ein Idyll. Das Rudel lebte in einem verlassenen Termitenhügel.
Die Eltern hatten eine Höhle hineingegraben, in der war es warm und gemütlich. Tagsüber schliefen sie eng aneinandergekuschelt, nachts verließen sie den Hügel und gingen im Dschungel auf die Jagd. Eines Tags jedoch wurde die Idylle zerstört. Menschen kamen mit Gewehren, schnitten den Hügel auf, erschossen die Eltern und nahmen die Jungen gefangen. Weil: zwei von ihnen nicht Wölfe waren, sondern - Menschenkinder.
Sie wittern Fleisch und sehen im Dunkeln
Die beiden Mädchen, die mit den Wölfen aufgewachsen waren, kamen nun in eine Missionsstation. Und der Leiter der Station, der indische Priester Joseph Singh, schrieb alles, was die Mädchen taten, in ein Tagebuch. Sie seien verängstigt, schrieb Singh, sie würden sich aneinanderklammern. Sie würden nicht aufrecht gehen, sondern auf allen Vieren, und zwar so schnell, dass sie einem Menschen davonlaufen könnten, man müsse sie einsperren.
Das eine Mädchen sei etwa anderthalb Jahre alt, das andere sieben oder acht. Man habe sie Amala und Kamala genannt. Kleidung lehnten die beiden ab, gegessen wurde nur rohes Fleisch und Gras, und kam man ihnen nahe,
dann knurrten sie, kratzten und bissen. Obwohl sie nackt wären, sei ihre Haut unempfindlich gegen Kälte und Hitze, niemand habe sie je frieren oder schwitzen gesehen. Fleisch würden sie auf 60 Meter Entfernung wittern, in stockfinsterer Dunkelheit würden sie ausgezeichnet sehen, und von ihren Augen gehe nachts ein unheimlicher blauer Lichtschein aus, der alle Menschen zu Tode ängstige. Deshalb auch hatten die Einwohner des Dorfes die Missionare zu Hilfe geholt,
sie hatten geglaubt, im Dschungel gingen böse Geister um.
Kirchgang gut, Sprechen schlecht
Sprechen - konnten die beiden Kinder nicht. Die Leute auf der Missionsstation versuchten vergeblich, es ihnen beizubringen. Wie überhaupt die Versuche,
ihnen die Zivilisation nahezubringen, umsonst waren. Etwas Anderes hingegen zeigte guten Erfolg: Krankheit. Ein Jahr, nachdem man sie aus dem Hügel geholt hatte, starb die kleinere der beiden, Amala, an einem Nierenversagen. Nun war ihre Gefährtin allein. In den acht Jahren, in denen sie noch in der Missionsstation lebte, hat das Wolfsmädchen Kamala gelernt, Kleidung zu tragen, Gekochtes zu essen und mit in die Kirche zu gehen. Die Missionare verbuchten das als Erfolg. Das Sprechen ging nicht gut, ebenso das aufrechte Gehen. Es war zeitlebens mühsam für sie, sobald es schnell gehen musste, war sie gleich wieder auf allen Vieren. Und am 14. November 1929 starb auch sie, das letzte der beiden Wolfskinder, an Typhus. 16 oder 17 Jahre dürfte Kamala alt geworden sein.
Ob sie wohl glücklich gewesen ist, dass man sie und ihre Freundin aus dem Hügel geholt hat? Sie sind in ein fremdes Leben gepresst worden, sie sind früh gestorben, und die Menschheit hat Erkenntnisse über Wolfskinder sammeln dürfen. Wenn man sie nicht gefunden hätte, hätten sie weiter im Termitenhügel gelebt. Vielleicht wären sie dort glücklich gewesen. Vielleicht auch nicht. Wer kann schon beurteilen, welches Leben das Beste ist für einen, der nicht weiß,
dass er ein Mensch ist und kein Wolf …