Eine Selbstmord-Welle hat Goethe wohl nicht ausgelöst, mit seinem Roman von den Leiden des jungen Werther. Aber die junge Münchnerin hatte das Buch auf dem Nachttisch liegen, als sie sich am 14. Januar 1785 umbrachte.
Goethe hatte nicht geahnt, dass sein Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" zum ersten deutschsprachigen Bestseller werden würde: In ganz Europa lasen Ende des 18. Jahrhunderts vor allem junge Erwachsene die tragische Liebesgeschichte, die mit dem Freitod des Helden endet. Dass der Roman eine regelrechte Selbstmordwelle unter seinen Lesern ausgelöst haben soll, ist mittlerweile widerlegt. Das tragische Schicksal eines jungen Mädchens aus München ist aber tatsächlich mit "Werthers Leiden" verknüpft: Die 17jährige Franziska von Ickstatt, genannt Fanny, springt am 14. Januar 1785 von einem der Türme der Frauenkirche und stirbt nur wenige Minuten später an ihren schweren Verletzungen.
Es sah nach Liebe aus
Dabei hatte die Liebesgeschichte von Fanny und ihrem Geliebten Franz so schön begonnen. Kennengelernt hat sie ihn bei der Großtante in Ingolstadt:
ein schneidiger junger Leutnant, der Herr Franz von Vincenti, in seinen schwarz glänzenden Stiefeln, der weißen Hose und dem blauem Uniform-Rock, charmant und gut aussehend. Und sie, ein hübsches, gebildetes Mädchen aus angesehener Münchner Familie, mit 17 genau im richtigen Alter für große Gefühle und Sehnsüchte.
Der Herr Leutnant schafft es schnell, in ein Regiment nach München versetzt zu werden, wo das Fräulein von Ickstatt lebt. Man schreibt sich brennende Briefe, trifft sich heimlich, schwört sich ewige Liebe, und nach und nach wird die zarte Verbindung auch von den Eltern gebilligt: gemeinsame Spaziergänge in schicklicher Begleitung, Tanzveranstaltungen und Bälle unter den Augen der wachsamen Mutter, einer lebenslustigen, noch relativ jungen Dame. Aber die Münchner Gerüchteküche bringt böses Geschwätz in Umlauf. Angeblich teile der fesche Franz, während er dem Fräulein Tochter den Hof mache, schon längst das Bett mit der Frau Mama.
Ob die verliebte Fanny den bösen Worten Glauben schenkte, weiß niemand. An diesem 14. Januar aber kommt ihr Leutnant nicht wie verabredet zum täglichen Treffpunkt in der Frauenkirche. Fanny und ihre Zofe warten, lassen sich vom Mesner die Grabinschriften erklären und beschließen dann gegen halb drei den nördlichen Turm des Domes zu besteigen. Oben, in fast hundert Metern Höhe und in eisiger Winterluft, zeigt der Türmer den beiden jungen Damen die herrliche Aussicht. Nur wenige Augenblicke später sieht eine Kirchenbesucherin eine dunkle Gestalt aus einem der Turmfenster stürzen, wie einen großen Vogel. Dann schlägt der Körper auf dem Kirchendach auf, stürzt auf ein Nebengebäude und verschwindet zwischen Staub und zerbrochenen Ziegeln.
Werther auf dem Nachtkästchen
Auf Fanny von Ickstatts Nachtkästchen fand man eine Ausgabe des "Werther" liegen, etliche Textstellen dick angestrichen. Später hieß es, das Mädchen sei wankelmütig gewesen, habe zwischen Extremen getaumelt, mal heiter, mal melancholisch. Dank des Einflusses ihrer Familie bekam Fanny, obwohl eine Selbstmörderin, eine christliche Beerdigung - anders als der junge Werther im Roman.