Am 9. Januar 1954 ist es auf Grönland noch kälter als ohnehin schon: - 65,9° Celsius messen die Forscher, die dort dem Winter trotzen. Rekord! Und wenn schon, meinen dagegen die hartgesottenen Sibirer.
Der Mensch liebt Rekorde. Kein Gipfel ist zu hoch, kein Meer zu tief, kein Ort zu kalt, als dass er nicht dorthin strebt, koste es was es wolle: Millionen von Dollars, ein paar Zehen oder das Leben. In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts boomte ein neues Entdeckertum. Der Weltkrieg war überstanden - und er hatte der Menschheit auf grausame Weise zu technischem Knowhow verholfen, mit dem sich nicht nur der Feind, sondern auch die Erde ausspionieren ließ. Man vermaß Meeresböden, tauchte in tiefste Tiefen, erklomm den höchsten Gipfel und nistete sich ein im Ewigen Eis.
Frieren für die Forschung
Letzteres tat in den Jahren 1952 bis -54 ein britisches Forscherteam; die Männer begaben sich in Grönland auf den höchsten Punkt des riesigen Eismassivs.
Auf der Überwinterungsstation "North Ice" prüften sie zwei Jahre lang, wie der Mensch in extremer Kälte überleben könne. Nicht alle hielten durch, manche gingen, einer starb - aber am Ende des Projekts hatten sie einen Rekord in der Tasche. Am 9. Januar 1954 maßen sie die tiefste je auf Grönland gemessene Temperatur, - 65,9 Grad Celsius.
Zugegeben, ein ungemütliches Klima. Ein Mitteleuropäer, dessen härteste Winter mit zehn Grad unter null vergleichsweise kuschelig sind, muss sich da schon warm anziehen. Der klassische großmütterliche Rat, vor dem Verlassen des Hauses immer Mütze, Schal und Handschuhe anzulegen, ist unbedingt zu beherzigen. Bereits nach zwei Minuten ohne Schutz frieren Finger, Zehen und Ohrläppchen ab. Wie viele Finger, Zehen und Ohrläppchen das Bezeugen jenes Kälterekords gekostet hat, ist nicht überliefert.
Dabei hätten sich die Forscher nur bei den Bewohnern von Oimjakon erkundigen müssen, um zu erfahren, wie man souverän mit Kälte umgeht. Dort ist der Kälterekord Alltag: Oimjakon, gelegen im Nordosten Sibiriens, ist der kälteste bewohnte Ort der Erde. Temperaturen von -65 Grad sind dort zwar selten; aber mit 55 Grad unter Null im Winter haben sich die Oimjakoner arrangiert. Sie sind es gewohnt, die Milch für den Morgenkaffee mit der Axt vom Block zu schlagen.
Sie kennen das "Sibirische Sternflüstern": Der eigene Atem gefriert knisternd zu Eiskristallen, sobald er den Mund verlässt. Die Menschen von Oimjakon müssen nicht von Oma daran erinnert werden, sich komplett zu vermummen, ehe sie vor die Tür treten; sie sind nicht überrascht, auf dem Klo Stalaktiten aus Eis vorzufinden - und sie haben fest verinnerlicht, dass sie im Oktober den Motor ihres Autos anlassen und bis zum Frühjahr laufen lassen müssen, wenn sie mobil bleiben wollen. Einmal abgewürgt, springt der Wagen nie wieder an. Fürs Freizeitvergnügen wird der Gemeindesaal ab und zu geheizt - beim Tanzen und molligen -3 Grad im Raum kann man schon mal ins Schwitzen kommen. Wirklich ungemütlich wird es für die Oimjakoner nur im Sommer, wenn das Eis taut, der Boden sich in einen Sumpf aus Schlamm verwandelt und die Mücken in Scharen über sie herfallen. Doch sie wissen: Der nächste Winter kommt bestimmt.