"Big brother is watching you" - Am 8. Juni 1949 erschien George Orwells "1984", lange Zeit eine der düstersten Zukunftsvisionen der Literatur. Niemand konnte damals ahnen, wie Big Brother eines Tages wirklich aussehen würde.
Am 8.Juni 1949 ist ein Roman in die Londoner Buchläden gekommen, dessen knapper Titel auch heute noch jedem geläufig ist: "1984". Der britische Schriftsteller George Orwell hat die düstere Geschichte in nüchternem, manchmal kolportagehaftem Ton gehalten. Der ist heute wieder angesagt. Aber die Unterdrückungsmechanismen des totalitären Staates "Ozeanien", die Orwell da vorführt, wirken wie einer vergilbten Zeitung aus dem Kalten Krieg entnommen. Diese ideologische Starre und das Schwarz-Weiß-Schnittmuster, so nah an der Realität das einmal gewesen ist, kommt einem jetzt fern und unwirklich vor.
Mein Hund geht fremd
Trotzdem, "1984" gehört zu den Klassikern der modernen Weltliteratur. Dreimal ist der deprimierende Roman verfilmt worden. So ein Streifen hätte heute kaum eine Chance. Die jüngere Generation würde ihn schlicht nicht verstehen. "Big brother is watching you" - das war nach Orwell die Überwachungsmanie eines totalitär-allmächtigen Staates, in dem ständig die Propagandamaschinerie auf die Bürger eintrommelt und umgekehrt Kameras alles und jeden permanent beobachten.
In der Zwischenzeit haben sich, so scheint es, die Verhältnisse in ihr schieres Gegenteil verkehrt. Menschen pfeifen auf die Unversehrtheit ihrer Privatsphäre und geben alles, auch das Intimste der Öffentlichkeit preis, solange nur eine Kamera surrt - in TV-Nachmittags-Talkshows mit so prickelnden Themen wie "Mein Hund geht fremd" oder "Mein Mann spielt lieber mit Puppen als mit mir". Und dann das Internet. Eine preiswerte Bühne für Selbstdarsteller jeder Art, aber auch umgekehrt ein Einfallsportal für Schnüffler privater und staatlicher Agenturen. Und da alles über eine schlichte stille Telefonleitung läuft, merkt niemand, wie Späher, Durchsuchungsprogramme, Viren und andere Festplattenschädlinge den eigenen Computer heimsuchen.
Das Terrain der webbasierten Persönlichkeitsbeschränkung ist heute komplett unübersichtlich geworden.
Ob man sich in einem Fall freiwillig und im anderen mit verdeckter Erpressung in die digitale Zwangsjacke stecken lässt, ist oft nur schwer auseinanderhalten.
Ersatzlos abgenudelt
George Orwell, 1903 geboren, hatte da noch klare Verhältnisse vor sich. Hier ist der totalitäre Staat mit seinem Allmachtswahn und dort das Individuum als chancenloses Opfer. Der Schriftsteller wusste, wovon er schrieb, denn er hatte das Handwerk der gelenkten Wahrheitsverkündung selbst erlernt. Im zweiten Weltkrieg produzierte er bei der BBC Kriegspropaganda. Dabei starrte auch ihm die Zensur misstrauisch über die Schulter. Nach und nach fühlte er sich in seinem Job dermaßen unbehaglich, dass er ihn nach zwei Jahren aufgab. Er, aufrechter Sozialist, aber Stalinismus-Verächter, hatte es längst realisiert: Die Leute auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs verdrehten die Wahrheit wie es ihnen gerade in den Kram passte, aber die eigenen Leute taten exakt das Gleiche. All das floss in den Roman "1984" ein, mit dem er mitten im schärfsten Kalten Krieg den Zeitgenossen vor Augen halten wollte: Auch der ach so freiheits- und demokratieliebende Westen nagelt den Menschen ein propagandistisches Brett vor den Kopf.
Heute hat sich einiger ideologiegeschichtlicher Staub auf dem Roman niedergelassen. Freiheit? Gleichheit? Wirken ein bisschen abgegriffen, diese ehedem hohen Worte, propagandistisch einfach abgenudelt. Und weit und breit kein Ersatz in Sicht.