300 Meter ragt die Felswand vor Antoine de Ville auf, dem Chef der "Königlichen Leiterträger". Am 26. Juni 1492 beginnt er mit der Besteigung des Mont Aiguille in den Westalpen. Die Welt dort oben hat noch kein Mensch je gesehen.
Kann man eine neue Welt entdecken - mitten in der alten? Früher ging das noch. Eine Episode aus einer Zeit vor Google Earth, bevor man jedem Mongolen aus dem Weltall in die Jurte glotzen konnte.
Es ist ein Herbsttag im Jahr 1490. Der französische König Karl VIII. quält sich mit einem Trupp Soldaten in den französischen Westalpen entlang an den Hängen einer Bergkette. Eine Reisegesellschaft. Der König ist erst 20 Jahre alt, noch kennt er kaum sein Reich. Plötzlich macht der Pfad eine Biegung aus dem Bergwald, und gibt den Blick frei auf ein schieres Wunder. Karl ist fassungslos.
Unbesteigbarer Monolith
Vor ihm ragt ein Monstrum auf, ein völlig frei stehendes Felsmassiv. Etwa 300 Meter hoch blanker, senkrechter Fels, schroff und rissig. Der Monolith hat aber keine Spitze, sondern ein gewaltiges Plateau. Aiguille heißt er, erzählen die einheimischen Führer dem König, aber eigentlich, sagen sie, nennt man ihn hier "Mons Inascensibilis" - "unbesteigbarer Berg". Es gibt keinen Weg hinauf.
Karl lässt absitzen. Unbesteigbar?! Will der Koloss seiner Herrschaft trotzen? Er ruft aus dem Trupp Antoine de Ville. Der ist Karls "capitain des schelliers", der Chef der königlichen Leiterträger, der Experte für die Eroberung von hohen Wehrtürmen. "Da musst du rauf!", sagt Karl, und Antoine de Ville dürfte weiß geworden sein wie der Kalkfels vor ihm.
Fast zwei Jahre lang plant de Ville die Besteigung des Bergs. Dann rückt er an mit Seilen, Eisenhaken und Leitern. Am 26. Juni 1492 beginnt er mit einigen Einheimischen, mit Belagerungsfachleuten und zwei Priestern den Einstieg in den Aiguille. Insgesamt ist der Berg 2.085 Meter hoch, aber die eigentliche Herausforderung sind die senkrechten 300 Meter hohen Wände. De Ville verkeilt an einigen Rissen entlang Leitern in das Massiv und befestigt sie mit Haken. Am ersten Tag schafft er die Hälfte des Wegs.
Übernachtung im Biwak. Zweiter Tag: Wieder werden Leitern verlegt, senkrecht, waagrecht, über die Spalten im Massiv, darunter das Reich der nackte Leere. "Es ist der furchtbarste und grauenerregendste Weg, den ich oder ein Mann in meiner Begleitung je erlebt haben", berichtet de Ville später. Dann sind sie oben.
Grusliger Gedanke
Oben. Die ersten Menschen, die die Welt auf dem Plateau erblicken - und die Welt ist eine Wiese. Eine scheinbar frei schwebende Wiese unter dem Himmel, über dem Abgrund. Wie im Traum. De Ville schreibt sofort auf dem Berg einen Brief, den ein Bote nach Grenoble bringen soll, damit der König vom Triumph erfährt. Er selbst will nicht mehr runter, bis von dort Zeugen kommen und ihn hier oben sehen. Als diese Tage später endlich eintreffen, sehen sie staunend, wie tatsächlich von dort oben Männer herunter winken. Ein unglaublicher Anblick. Es sind die Geburtsstunden der alpinen Kletterei.
Und noch etwas sehr Rätselhaftes berichtet Antoine de Ville von der schwebenden Wiese unter dem Himmel: Eine ganze Herde Gämsen lebt dort oben! Berührt notiert er: "Niemals werden sie von dort herunterkommen!" Später, am Hof beim stolzen König, sorgt gerade diese Geschichte für großes Kopfzerbrechen, und man fragt sich: Wie sind sie dort überhaupt rauf gekommen? Denn sogar für Gämsen gibt es keinen Steig auf das Plateau. Es scheint nur eine Erklärung zu geben: Adler haben junge Gämsen nach oben verschleppt, wo sie sich dann fortgepflanzt haben. Nur - warum sollten die Adler das tun? Aus Lust und Laune? Oder - haben sie sich dort oben vielleicht eine lebende Speisekammer eingerichtet? Ein grusliger Gedanke.