Es war ein seltsames Gipfeltreffen. Am 2. Oktober 1808 trafen sich der Kaiser Napoleon und der Dichterfürst Goethe zu einem gemeinsamen Frühstück. Thema der Unterhaltung: leidenschaftliche Liebe.
Der Kaiser rief. Und alle, alle kamen. Zum "Fürstentag" nach Erfurt: Könige, Herzöge und selbst der Zar. Nun hätte Napoleon wahrlich genügend Gesprächspartner gehabt, aber es musste auch noch Goethe her. Und der eilte flugs vom nahen Weimar herüber. Audienzzeit: Die Frühstücksstunde am 2. Oktober 1808. Nein, ein zweites Mal wollte der Dichter den französischen Kaiser wohl nicht brüskieren. Hatte er doch zwei Jahre zuvor ein Treffen mit recht fadenscheinigen Gründen abgesagt, als es nach der verlorenen Schlacht in Jena und Auerstedt um die politische Zukunft des Herzogtums Weimar-Sachsen-Eisenach gehen sollte. Diesmal galt Bonapartes Einladung jedoch nicht dem Staatsminister, sondern eindeutig dem Dichter Goethe. Die Politik blieb also außen vor.
Was für ein Kerl!
Schließlich gab es noch andere Themen: Theater und Literatur. Der Empereur bewunderte Goethe, seit er als junger General den "Werther" gelesen, ja verschlungen hatte. Denn seine angebetete Josephine war alles andere als ein braves Heimchen am Herd. Nur zu gern öffnete sie Herz und Schlafzimmertür auch anderen Verehrern. Inzwischen hatte Napoleon die Frauen - und obendrein halb Europa im Griff. "Was für ein Kerl!" Originalton Goethe. War der denn immer noch Napoleon-Fan? Obwohl französische Truppen sein Weimar geplündert und beinah in Schutt und Asche gelegt hatten? Wie, bitte, ging das unter einen Hut?
Ganz einfach. Des Dichters Bewunderung galt ja nicht dem gnadenlosen Feldherrn, sondern dem schöpferischen Genie, dem Tatmenschen. Bonaparte war in Goethes Augen zudem der Überwinder der Französischen Revolution, der zur staatlichen Ordnung zurückgefunden, den Bürgern neue Rechte gewährt und den "Code Napoleon" geschaffen hatte. Und wollte er nicht auch der vermaledeiten Kleinstaaterei ein Ende setzen?
Doch zurück zur herbstlichen Frühstücksstunde anno 1808. Was war denn nun wirklich abgegangen zwischen den beiden? Wollte Eckermann Jahre später von Goethe wissen und was denn dieser beim ersten Anblick des Kaisers so empfunden habe? "Dieses Kompendium der Welt! ... Er war es, und man sah ihm an, dass er es war; das war alles."
Übermächtige Liebe
Aha. Er wird recht verdattert dreingeschaut haben, der gute Eckermann. Ein bisschen genauer hätte er’s dann doch gern gehabt... Goethe greift in die Schatztruhe seiner Erinnerungen: "Der Kaiser sitzt an einem großen runden Tisch frühstückend" ... und nebenbei regiert er. Minister und Generäle flattern hin und her. Talleyrand, Daru ... und wie sie alle heißen. "Der Kaiser winkt mir (Goethe) heranzukommen. Ich bleibe in schicklicher Entfernung vor ihm stehen. Nachdem er mich aufmerksam angeblickt, sagt er: Voilà un homme! Das wunderbare Wort des Kaisers, womit er mich empfangen hat. Ich verbeuge mich. - Er fragt: wie alt seid ihr? Sechzig Jahr. - Ihr habt Euch gut erhalten." Artigkeiten. Und mehr. Napoleon hat Fragen, was den "Werther" betrifft. Wieso sein Schöpfer denn an gewissen Stellen zwei Motive - den Ehrgeiz und die leidenschaftliche Liebe - miteinander vermischt habe. Das sei nicht naturgemäß und "schwäche beim Leser die Vorstellung von dem übermächtigen Einfluss, den die Liebe auf Werther gehabt habe."
Napoleon als Romantiker. Das war wohl Goethe neu. Liebe hin, Liebe her. Und das profane Glück, das leibliche Wohl ... also, um noch einmal auf das Frühstück zurückzukommen ... wie war es nun darum bestellt? "Kaltes Huhn? Ein Gläschen Madeira? - Oder ganz à la française? Croissant et Café au lait?" Weder noch. Nicht einmal eine Tasse Tee für den Geheimrat! Und den Orden der französischen Ehrenlegion gab‘s erst anderntags.