Ihr "Nesthäkchen" fand das Glück in der bürgerlichen Welt, aus der die Autorin Else Ury, geboren am 1. November 1877, selbst stammte. Doch als Jüdin fiel Else Ury später unter die Barbaren.
In der "Königlich privilegierten Berlinischen Zeitung" erschien unter dem Datum des 1. November 1877 folgende Anzeige: "Durch die heut Nachmittag 4 Uhr erfolgte glückliche Geburt eines munteren Töchterchens wurden erfreut Emil Ury und Frau Franziska." Das muntere Töchterchen wurde Else genannt und wuchs in Berlin als Tochter eines Tabaksfabrikanten heran. Sie heiratete nie, sondern blieb im Haushalt ihrer Eltern und mauserte sich zur Erfolgsautorin für Mädchenbücher.
Bürgerlich und widerspenstig
Vor allem die Nesthäkchen-Serie, erschienen zwischen 1913 und 1925, machte sie wohlhabend und berühmt. Im Mittelpunkt steht Annemarie Braun, der temperamentvolle Sonnenschein einer Berliner Arztfamilie. Die entwickelt sich von einer wilden und zärtlichen Puppenmutter zur aufgeweckten Medizinstudentin, die ihren recht unweiblichen Lebensplan gegen alle Widerstände durchsetzt. Vor der Ziellinie schlägt dann die Liebe zu und bringt sie von den Karriereplänen ab. Aber der Nestbau gelingt und macht sehr glücklich. Nur das Kochen, das lernt Nesthäkchen nie so richtig.
Else Urys Texte halten den bürgerlichen Werten die Treue. Trotzdem lassen sie Spielraum für Unbotmäßiges und Widerspenstiges, auch für fortschrittliche Erziehungsmodelle. Bis heute haben Kinder Spaß an diesen Büchern. Die Nesthäkchen-Verfilmung aus dem Jahre 1983 wurde von 13 Millionen Menschen gesehen.
Dass Else Ury Jüdin war, wusste so gut wie niemand. Jüdisches Leben kommt in den Nesthäkchen-Bänden nicht vor, nicht einmal am Rande. In Else Urys Leben spielte es durchaus eine Rolle, aber eine weniger wichtige Rolle als Goethe und Schiller, das deutsche Weihnachtsfest und das deutsche Vaterland. Die Gefährlichkeit der Nationalsozialisten wollte sie zu Beginn nicht wahrhaben.
Das Nationale lag ihr, und sie fühlte deutsch, warum also sollte man ihr schaden wollen? So dachten viele assimilierte Juden, die im Land blieben, bis es zu spät war.
Schockierendes Ende
Die Schlinge zog sich zu. Else Ury wurde entrechtet und enteignet. Sie bekam Schreibverbot, und die Nesthäkchen-Bände verschwanden aus den Buchhandlungen. Magda Trott erhielt den Auftrag, eine Ersatz-Serie zu schreiben: "Försters Pucki" quer durch alle Lebensalter. Darin geht es wesentlich zackiger zu. Und unterwürfiger.
Für Else Ury gab es kein Entkommen. Sie pflegte ihre kranke Mutter, die 1940 hochbetagt starb. Zwei Jahre später musste Else Ury den Viehwagen nach Auschwitz besteigen. Am Tag nach ihrer Ankunft wurde sie, 65 Jahre alt, in der Gaskammer ermordet.
Und die Mädchen der Nachkriegszeit? Stürzten sich wieder auf die Nesthäkchen-Bände, als sei nichts gewesen. Über Else Urys Schicksal wurde nicht gesprochen. Es passte ja so gar nicht zu der guten alten Bürgerwelt, die sie in ihren Büchern so charmant beschreibt. Erst zu Beginn der 1990er-Jahre wurden ihr Leben und Sterben öffentlich gemacht. Und das war ein Schock für alle, die Else Urys sonniges Nesthäkchen liebten.