Darf man Mitgefangene im Gefängnis zum Austritt aus der Kirche animieren, indem man sie mit Tabak besticht? Die Frage zog weite Kreise, am 8. November 1960 erging der "Tabakbeschluss" des Bundesverfassungsgerichts.
Um zu testen, ob eine Demokratie wirklich was taugt und ob sie praktikabel ist, braucht es auch Individuen, die sie einem Stresstest unterziehen. Von einem solchen Individuum soll hier die Rede sein. Sein Name tut nichts zur Sache, nennen wir ihn Herrn X.
Herr X hatte es mit der Demokratie schon immer schwer. 1913 geboren, verlebte er seine Kindheit und Jugend in der anfälligen Weimarer Demokratie. Anschließend im Nationalsozialismus schaffte er es bei der SS bis zum Obersturmführer. Als der Krieg vorbei war und SS-Bedienstete nicht mehr gefragt waren, fand er unter falschem Namen eine Beschäftigung bei der VVN - der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Ja, kein Missverständnis. Man lasse es sich auf der Zunge zergehen: Ein SS-Mann bei den Verfolgten des Naziregimes!
Kein Freund der Demokratie
Doch so gut es ihm als SS-Obersturmführer in Deutschland gefallen hatte, so schlecht gefiel es ihm nun in Deutschland. Herr X war kein großer Freund der Demokratie! Nur so lässt es sich erklären, dass er in den Jahren 1950 bis 1952 für die Sowjetunion Spionage betrieb - nein, wieder kein Missverständnis - ausgerechnet für den ehemaligen Kriegsgegner!
Es kam wie es kommen musste: X wurde erwischt und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Hier fand er eine neue Betätigung: Er warb bei seinen Mitgefangenen für den Austritt aus der Kirche - denn mit der hatte es Herr X ebenso wenig wie mit der Demokratie.
Damit seine Mitgefangenen noch williger aus der Kirche austreten, bestach er sie mit Tabak. Das hätte er nicht tun sollen. Denn als er eine vorzeitige Entlassung aus dem Gefängnis beantragte, wurde ihm diese wegen seiner Bestechungsversuche versagt. Was tun? Jetzt versuchte es Herr X letztlich doch mit demokratischen Mitteln: Er focht das Urteil an.
Dabei berief er sich auf die Verletzung seiner Religionsfreiheit - ihm war doch im Grundgesetz zugesichert, dass er Andersgläubige missionieren dürfe.
Sittlich verwerfliches Mittel
Missionieren! Wieder kein Missverständnis! Herr X hielt es nun plötzlich auch mit religiösen Methoden. Aber, es half nichts, und so kam es zum Grundsatzentschluss des Bundesverfassungsgerichtes, zum sogenannten "Tabakbeschluss" vom 8. November 1960. Was soll man sagen? Herrn X´ Beschwerde wurde abgewiesen, er kam nicht frei. Die Begründung: Die Abwerbung eines Andersgläubigen mittels des im Gefängnis so heißbegehrten Tabaks gilt als "unlautere Methode" beziehungsweise als "sittlich verwerfliches Mittel" - so das Bundesverfassungsgericht. Und wer sittliche Grundanschauungen nicht einhält, dessen Religionsausübung ist nicht mit der "Religionsfreiheit" zu schützen.
Das war´s. Und Herrn X war´s anscheinend egal. Sittliche Grundanschauungen hatten ihn noch nie interessiert! Er saß seine Haft ab und musste einsehen: So gut er mit dem Nationalsozialismus und dem Sowjetkommunismus auskam: Die Demokratie war einfach nicht sein Ding!