Steuerfreiheit, Bordelle, Drogen, ein Paradies für Agenten aller Kriegsparteien - als neutrale Stadt erlebte Tanger in Marokko eine seltsame Blüte. Seit dem 18. Dezember 1923 war Tanger "Internationale Zone".
Es war einmal eine weiße Stadt am blauen Meer. Dort konnte man alles kaufen, sogar das Glück. Jeder, der in diese Stadt kam, wollte dort für immer bleiben: So sagte man von Tanger in Marokko. Dort gelegen, wo Afrika Spanien am nächsten ist, am Eingang zum Mittelmeer, gegenüber von Gibraltar. Die märchenhafte Zeit dieser Stadt begann Mitte der 20er-Jahre:
46 Bordelle in der Stadt
Frankreich, Großbritannien und Spanien beendeten ihren Kolonial-Streit um diesen kleinen, aber strategisch wichtigen Fleck an Nordafrikas Küste und unterzeichneten am 18. Dezember 1923 ein Abkommen zur gemeinsamen Verwaltung der Stadt. Die fast vollkommene Steuerfreiheit und die moralische Freizügigkeit machten die Internationale Zone Tanger zum Paradies für Geschäftsleute und Weltenbummler. Schmuggel und Zuhälterei waren ein ehrbarer Broterwerb. "Madame Simones école d’amour" ist nur eines von 46 Bordellen der Stadt. Es gibt käufliche Körper für jeden Geschmack: Frauen und junge Männer, dunkel und hellhäutig, Freudenhäuser für Christen, Muslime und Juden.
Im zweiten Weltkrieg wird der neutrale Boden von Tanger zum Agenten-Hotspot, - und spanisch besetzt. Anarchisten, Republikaner und Franco-Anhänger prügeln sich in den Kneipen. Die deutschen Offiziere quartieren sich im Hotel "Rif" ein, Amerikaner und Briten sitzen nur zwei Straßen weiter im Hotel "Minzah". Im Hafen von Tanger liegen die Schiffe tief im Wasser, vollgeladen mit geschmuggelten Waffen für alle Kriegsparteien.
Drogensüchtige, Genies und Milliardäre
Dann ist der Krieg vorbei, und in der Interzone begegnen sich ehemalige Vichy-Franzosen und Resistance-Kämpfer, untergetauchte Nazi-Größen treffen auf geflohene Juden.
Die Banken von Tanger horten das Gold der Kriegsgewinnler. Anfang der 50er Jahre werden in der nordafrikanischen Steueroase 6.000 Briefkasten-Firmen gegründet. Gleichzeitig entdecken europäische und US-amerikanische Maler und Literaten die Stadt. Die orientalische Exotik, das vielfältige Drogenangebot und die sexuelle Freizügigkeit ziehen verkrachte Existenzen genauso an wie feierwütige Millionäre und homosexuelle Künstler.
Der Schriftsteller Truman Capote beschreibt Tanger als zeitlosen Ort, an dem viele Touristen für wenige Tage kommen und dann Jahre bleiben, so wie der US- Literat William Burroughs.
Arm und verwahrlost vegetiert Burroughs in einem kleinen vermüllten Zimmer in der Altstadt, das Hirn vom billigen Heroin umnebelt. Stunde um Stunde schiebt er sich die Nadel ins grau gewordene Fleisch.
Andere stranden luxuriöser an Marokkos Küste: Die amerikanische Milliardärin und Woolworth-Erbin Barbara Hutton gibt in ihrem orientalischen Palast zahllose rauschende Feste und wird zur Königin des Nachtlebens von Tanger.
1957 wird die Internationale Zone Teil des nun unabhängigen Königreiches Marokko. In den Monaten davor leeren sich die Goldschließfächer in den Banken, Firmen verlegen ihren Sitz nach Liechtenstein und auch Madame Simone und ihre Mädchen verlassen die weiße Stadt am blauen Meer und gehen nach Südfrankreich. Die große Party ist vorbei.