Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung «Andrea erzählt» vom 28. März 2014. Ich habe Ihnen das letzte Mal eine Geschichte über die Dummheit versprochen. Diese hier ist für mich eine der lustigsten, die ich je gehört habe. Seit ich sie meinem Sohn vor ein paar Wochen erzählt habe, redet er ständig davon. Ich hoffe, sie macht Ihnen genau so viel Spass, wie uns!
Nun wünsche ich Ihnen viel Vergnügen bei der «Geschichte von Jean dem Dummen und Jean dem Gescheiten [1]»!
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In der Nähe von Basel wohnte einmal ein armer Mann. Er hatte zwei Söhne, die sahen einander so ähnlich [2], dass die Leute sie immer verwechselten. Das passierte sogar ihrem eigenen Vater. Darum hatten sie auch denselben Namen: beide hiessen Jean. Weil sie aber doch sehr unterschiedliche Menschen waren, nannten die Leute den einen Jean den Dummen und den anderen Jean den Gescheiten.
Eines Tages wurde der Vater der beiden sehr krank und starb. Da sagte Jean der Dumme zu seinem Bruder: «Jetzt ist Vater tot und er hat uns nichts vererbt [3]. Darum werden wir eben ihn selbst aufteilen. Dann bekommt jeder von uns ein Stück von ihm.» Jean der Gescheite erschrak und rief: «Wir können unseren Vater doch nicht auseinanderschneiden! Da gebe ich ihn dir lieber ganz.» Jean der Dumme war zufrieden und sagte: «Gut, dann packe ich ihn ein und nehme ihn mit.»
Er nahm den toten Vater und ging mit ihm nach Basel. Dort stellte er ihn mitten auf eine Strasse. Dann versteckte er sich hinter einem Baum. Nach einer Weile kam ein Metzger mit ein paar Kälbern [4] vorbei. Als die Tiere den toten Mann sahen, blieben sie stehen und wollten keinen Schritt mehr weiter gehen. Da rief der Metzger: «He, alter Mann, geh von der Strasse weg! Meine Kälber müssen hier durch!» Doch der tote Vater gab natürlich keine Antwort. Da wurde der Metzger wütend. Er schlug ihn mit einem Stock solange auf den Kopf, bis er auf den Boden fiel.
Darauf hatte der dumme Jean gewartet. Er kam hinter dem Baum hervor und schrie: «Oh nein! Du hast meinen tauben [5] Vater getötet! Er war ein so lieber Mann und hat hier nur gewartet, bis ich mein Geschäft verrichtet [6] habe. Was sollen wir jetzt nur tun?» Der Metzger antwortete: «Es tut mir so leid! Glaube mir, es war ein Unfall! Ich kann deinen Vater leider nicht wieder lebendig machen, aber ich gebe dir viel Geld.» Jean der Dumme nahm das Geld und sagte: «Also gut, ich glaube dir. Mein Vater bleibt tot, aber so habe ich wenigstens etwas Geld.»
Er nahm den toten Vater und ging wieder nach Hause. Dort sagte er zu Jean dem Gescheiten: «Jetzt haben wir endlich Geld für seine Beerdigung.» Jean der Gescheite ärgerte sich, weil sein Bruder eine so gute Idee gehabt hatte. Aber er konnte nichts tun.
Ein paar Tage später sagte Jean der Dumme zu seinem Bruder: «Jetzt müssen wir den Ofen aufteilen. Er ist das einzig Wertvolle in diesem Haus.» Jean der Gescheite rief: «Spinnst du [7]? Jetzt kommt der Winter und wir brauchen ihn.» Jean der Dumme antwortete nur: «Tu, was du willst. Aber ich werde mir meinen Teil vom Ofen nehmen.»
Dann nahm er einen Hammer und schlug ein paar Steine aus dem Ofen heraus. Diese steckte er in eine Schachtel und ging damit wieder nach Basel.BasileaDort besuchte er jeden Goldschmied [8] und sagte ihm: «Komm in das Hotel. Ich werde dir kostbare [9] Steine verkaufen.» Dann ging er ins Hotel und wartete auf die Goldschmiede.
Schon bald wusste die ganze Stadt, dass im Hotel ein Mann mit kostbaren Steinen war. Alle kamen, um ihn zu sehen. Doch Jean der Dumme sagte ihnen: «Es wird schon dunkel. Das ist mir zu gefährlich, jemand könnte meine Steine stehlen. Kommt alle morgen wieder, wenn es hell ist.»
Nun sagte er zum Wirt [10]: «Sie haben gehört, dass ich kostbare Steine dabei habe. Bitte geben Sie mir das sicherste Zimmer, dass Sie haben.» Der Wirt antwortete: «Ich gebe Ihnen mein bestes Zimmer. Dann kann Ihnen und Ihren Steinen sicher nichts passieren.»
Doch mitten in der Nacht nahm Jean der Dumme die Kiste mit den Steinen aus dem Ofen und warf sie in den Rhein [11].
Am nächsten Morgen schrie er laut: «Meine Steine sind weg! Was ist das für ein schlechtes Hotel hier? Sogar im besten Zimmer ist man nicht sicher vor Dieben! Diese kostbaren Steine waren alles, was ich hatte!» Natürlich bekam der Wirt Angst, dass nun niemand mehr in sein Hotel kommen würde. Darum sagte er schnell: «Bitte hören Sie auf zu schreien. Es tut mir wirklich sehr leid, dass Ihre Steine weggekommen sind. Wenn sie niemandem etwas davon erzählen, werde ich Ihnen viel Geld geben.»
Natürlich war Jean der Dumme einverstanden. Er nahm das Geld und ging damit schnell wieder nach Hause. Dort sagte er zu Jean dem Gescheiten: «Siehst du, ich hatte recht. Diese Steine haben mich reich gemacht. Jetzt kann ich von dem Geld so viele neue Öfen kaufen, wie ich will.» Natürlich wurde Jean der Gescheite wieder neidisch und wollte wissen, wie sein Bruder das gemacht hatte. Jean der Dumme antwortete: «Oh, das ist nicht schwierig. Du gehst einfach nach Basel und schreist laut: ‚Ich verkaufe kostbare Steine!’»
Jean der Gescheite dachte: «Was mein dummer Bruder kann, schaffe ich auch.» Also nahm er selbst ein paar Steine vom Ofen und ging damit nach Basel. Dort stellte er sich auf einen Platz und rief: «Ich verkaufe kostbare Steine!» Als der Wirt des Hotels das hörte, wurde er sehr wütend. Er hatte nämlich inzwischen gemerkt, dass Jean der Dumme ihn betrogen [12] hatte. Weil Jean der Gescheite genau gleich aussah, wie Jean der Dumme, ging er sofort zur Polizei. Diese warf Jean den Gescheiten ins Gefängnis [13].
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Nach drei Tagen machte sich Jean der Dumme zuhause Sorgen um seinen Bruder. Er ging selbst nach Basel um ihn zu suchen. Als er ihn im Gefängnis fand, fragte er ihn: «Warum bist du hier?» Jean der Gescheite wurde wütend und antwortete: «Wegen dir natürlich! Weil du ein Betrüger [14] bist, wollen sie mich in den Rhein werfen, damit ich sterbe.»
Jean der Dumme blieb ganz ruhig und sagte: «Du musst keine Angst haben. Wir werden einfach die Plätze tauschen.» Weil die beiden sich so ähnlich sahen, merkte niemand, dass Jean der Dumme für Jean den Gescheiten im Gefängnis blieb.
Jean der Gescheite war sehr froh und ging nach Hause. Aber Jean der Dumme hatte schon wieder eine Idee: Er ging zum Fenster des Gefängnisses. Und als ein reicher Mann vorbeikam, rief er laut: «Nein, ich will sie nicht! Ich will sie wirklich nicht!» Der reiche Mann blieb stehen und fragte: «Wen willst du nicht?» Da sagte Jean der Dumme: «Die Tochter des Königs. Man will, dass ich sie heirate. Aber ich will lieber sterben, als das zu tun. Deshalb haben sie mich in dieses Gefängnis gebracht.»
Der reichte Mann sagte: «Ich helfe dir. Wir tauschen die Plätze. Du nimmst meine schönen Kleider und mein schönes Pferd und ich gehe für dich ins Gefängnis. Ich heirate die Tochter des Königs gern.» Jean der Dumme war natürlich einverstanden und ging mit schönen Kleidern und einem Pferd nach Hause.
Als am nächsten Tag zwei Polizisten kamen, um Jean den Dummen in den Rhein zu werfen und zu töten, merkten sie nichts von dem Tausch. Der reiche Mann schrie: «Ich heirate sie ja! Ich heirate sie ja!» Die Polizisten fragten: «Von wem sprichst du eigentlich?» Da sagte der reiche Mann: «Von der Tochter des Königs natürlich!» Die Polizisten lachten ihn nur aus und warfen ihn in den Rhein. Der reiche Mann ertrank sofort.
Ein paar Tage später kam Jean der Dumme mit seinem schönen Pferd nach Basel zurück. Die Leute fragten: «Bist du nicht Jean der Dumme? Wie kann das sein? Du bist doch im Rhein ertrunken!» Jean der Dumme sagte nur: «Natürlich bin ich mich selber, wer soll ich denn sonst sein? Und natürlich war ich im Rhein. Dort unten habe ich den Eingang zum Land der reichen Zwerge gefunden. Dort gibt es alles, was man will. Von dort habe ich auch diese schönen Kleider und das Pferd hier mitgebracht.»
Jetzt waren alle ganz aufgeregt und wollten wissen, wo genau der Eingang ins Land der reichen Zwerge sei. Jean der Dumme zeigte ihnen die Stelle, wo der Rhein am tiefsten war und sagte: «Genau da müsst ihr in Wasser springen.» So kam es, dass alle Basler miteinander ins Wasser sprangen und ertranken. Nur die Tochter des Königs nicht. Jetzt sagte Jean der Dumme zu ihr: «Wenn du mich nicht heiratest, werfe ich dich hinterher.» Aber weil er so klug war, hätte sie ihn sowieso genommen. So wurde Jean der Dumme zum König der Stadt Basel.
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Vielleicht müsste Jean der Dumme besser «Jean der Gemeine» heissen. Aber eigentlich waren ja alle selber schuld, die er betrogen hat. Er hat es bloss [15] geschafft, die Dummheit und die Gemeinheit der anderen für sich zu nutzen.
Ich hoffe, Sie hatten auch Ihren Spass dabei und wünsche Ihnen einen schönen Tag mit vielen schlauen Ideen. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie auch am 11. April wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt». Dann werde ich Ihnen «Die Sage von der goldenen Kuhglocke» erzählen. Auf Wiederhören!
[1] Gescheiter (der): jemand, der gescheit (klug) ist
[2] sich ähnlich sehen: sich gleichen, ähnlich aussehen
[3] etwas vererben: etwas nach seinem Tod hinterlassen, weiter geben
[4] Kalb (das): Kind einer Kuh
[5] taub: ohne Gehör, kann nichts hören
[6] sein Geschäft verrichten: höflicher Ausdruck für «aufs WC gehen»
[7] Spinnst du?: Bist Du nicht mehr klug? Bist Du nicht mehr gescheit?
[8] Goldschmied (der): jemand, der Schmuck aus Gold macht
[9] kostbar: wertvoll
[10] Wirt (der): Chef eines Restaurants oder eines Hotels
[11] Rhein (der): Fluss, der durch Basel fliesst
[12] betrügen: jemanden anlügen, hintergehen
[13] jemanden ins Gefängnis werfen: ihn ins Gefängnis bringen
[14] Betrüger (der): jemand, der betrügt
[15] bloss: nur