Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung «Andrea erzählt» vom 25. April 2014. Ich habe Ihnen für heute nochmals eine Geschichte über eine Höhle versprochen. Vielleicht geht es Ihnen ja wie mir. Seit ich ein Kind war, finde ich Höhlen sehr spannend. Vor allem, wenn draussen die Sonne scheint und man weiss, dass da drin eine ganz andere, dunkle Welt ist. Natürlich habe ich auch ein bisschen Angst davor. Darum gehe ich nicht gern in Höhlen hinein. Aber ich denke mir sehr gerne Geschichten darüber aus, was drin sein könnte. Diese hier habe ich mir nicht selbst ausgedacht. Sie kommt aus dem Waadtland. Das ist eine wunderschöne Gegend im Westen der Schweiz. Sie heisst: «Die Sage von der Feengrotte [1]». Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
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Vor vielen hundert Jahren lebten in der Schweiz ganz besondere Frauen. Sie waren Feen und halfen den Menschen in schweren und bösen Zeiten. Auch bei den steilen [2] Felsen im Jura [3] lebten ein paar von ihnen. Sie wohnten in einer grossen Grotte in der Nähe des kleinen Dorfes Montcherand. Niemand durfte sie dort besuchen. Sonst wurde er bestraft [4].
Alle Menschen liebten die Feen und jedes Kind wusste, wer die schönen Frauen 20140425 D Grottesmit den weissen Kleidern waren. Eine von ihnen kam zum Beispiel immer am Ostersonntag heraus. Wenn sie ein weisses Lamm [5] an einer Schnur bei sich hatte, sagten die Leute: «Schaut, es wird ein gutes Jahr!». Wenn sie aber eine schwarze Ziege dabei hatte, sagten sie: «Oje, es kommt ein schweres Jahr und wir werden Hunger haben!»
Eine andere Fee kam immer um Mitternacht aus ihrer Grotte. Dann badete sie in einem kleinen See. Zwei Wölfe bewachten [6] sie dabei. Und im Winter, wenn es schneite, kamen ein paar weitere Feen gemeinsam [7] in der Nacht ins Dorf hinunter. Dann gingen sie in eine alte Schmiedewerkstatt [8]. Dort wärmten sie sich am Feuer. Wenn am Morgen der Hahn krähte [9], sagte die älteste von ihnen leise: «Schnell, wir müssen weg, die Schmiede kommen zurück.»
Damals arbeitete in der Schmiedewerkstatt auch ein ganz besonders hübscher Junge. Er war achtzehn Jahre alt und hiess Donat. Alle Mädchen liebten ihn, aber die anderen Schmiede mochten ihn gar nicht. Sie sagten: «Er hat ein grosses Maul [10] und kann kein Geheimnis für sich behalten.»
Auch Donat hatte von den Feen in der Grotte gehört. Er beschloss [11], sie dort heimlich zu besuchen. Er sagte zu sich: «Dann bin ich der Mutigste im ganzen Dorf und die anderen Schmiede müssen mich bewundern.»
An einem Sonntagmorgen, als alle in der Kirche waren, kletterte Donat zu der Grotte hinauf. Ohne Angst ging er in den dunkeln Gang hinein. Er suchte den Weg mit den Händen und ging so lange an der Wand entlang, bis er in einen Raum kam.
Dort fand er ein Bett aus Blättern. Er sagte: «Das habe ich mir spannender vorgestellt.» Dann legte er sich hin und schlief ein.
Nach einer Weile erwachte er ganz plötzlich. Vor ihm stand eine schöne Frau. Sie trug ein weisses Kleid und ihr Haar war lang und golden.
Zwei Windhunde [12] standen rechts und links von ihr. Da bekam der mutige Donat Angst. Aber die Fee sagte ganz freundlich: «Donat, du musst dich nicht fürchten [13]. Du gefällst mir. Willst du bei mir bleiben? Ich will dich hundert Jahre lang glücklich machen.»
Donat rief: «Natürlich will ich das! Endlich erlebe ich auch einmal etwas Spannendes!» Doch da sagte die Fee: «Etwas musst du noch wissen: Du darfst mich nur dann sehen, wenn ich es will. Wenn du trotzdem kommst und mich suchst, werde ich dich für immer wegschicken und es wird dir dein ganzes Leben lang leid tun.» Dann gab sie ihm zwei Säcke und sagte: «Für jeden Tag, an dem ich mit dir zufrieden bin, lege ich dir ein Goldstück in den einen Sack und eine Perle in den anderen.»
Für Donat begann nun eine wunderschöne Zeit. Jeden Mittag öffnete sich für ihn eine zweite kleine Grotte im Berg. Dort durfte er hineingehen und zusammen mit der schönen Fee essen. Sie bediente [14] ihn selbst und er sah nie jemand anderes. Trotzdem war der Tisch immer voll mit Fischen aus dem Fluss, mit Fleisch aus den Wäldern und mit Früchten und Honig aus dem Tal. Nichts fehlte und die schöne Fee erzählte Donat jeden Tag neue Geschichten und sang schöne Lieder für ihn. Dann wurde sie immer ganz plötzlich still und verschwand [15] ohne ein Wort durch eine kleine Türe hinten in der Grotte.
Donat war sehr glücklich. Doch mit der Zeit wurde es ihm auch ein bisschen langweilig, wenn er allein war. Er sagte zu sich: «Die Grotte der Fee ist sicher voller spannender Geheimnisse und Wunder.» Am sechzehnten Tag beschloss er, der Fee heimlich zu folgen. Er sah, dass sie die Türe ein bisschen offen gelassen hatte und dachte: «Sie ist immer so freundlich zu mir und jetzt hat sie Türe offen gelassen. Sicher will sie, dass ich zu ihr komme.» Dann ging Donat hindurch. Er kam in eine grosse, schöne Grotte mit einer hohen Decke. Überall brannten Kerzen. In der Mitte stand ein grosses Bett aus rotem Samt [16]. Darauf lag die Fee und schlief. Ihr langes, weisses Kleid war ein wenig hochgerutscht. Er sah, dass sie Füsse hatte wie eine Gans.
Donat erschrak und wollte schnell wieder gehen. Aber da kamen die Windhunde unter dem Bett hervor und fingen an zu bellen [17]. Die Fee erwachte. Als sie Donat sah, wurde sie ganz traurig und sagte: «Wie schade! Bis jetzt war ich so zufrieden mit dir. Hättest du doch noch einmal vierzehn Tage lang getan, was ich dir gesagt hatte! Dann hätte ich dich geheiratet. Ich hätte meine ganze Macht, mein Glück, meine Geheimnisse und meine Schätze mit dir geteilt. Aber jetzt muss ich dich in die Schmiedewerkstatt zurückschicken. Die Säcke mit dem Gold und den Perlen darfst du behalten. Aber du darfst niemandem erzählen, was du hier gesehen und gehört hast.»
Die Fee verschwand und es wurde ganz dunkel. Donat musste ohne Licht nach dem Weg nach draussen suchen. Nach vielen Stunden kam er endlich aus dem Berg hinaus. Da hörte er eine laute Stimme. Sie rief: «Schweigen oder Strafe, Donat!»
Als Donat wieder in die Schmiedewerksatt kam, wollten alle wissen, wo er so lange gewesen war. Und weil Donat eben Donat war, konnte er nicht schweigen.
Er erzählte alles von den Grotten und der Fee und selbst von ihren komischen Füssen. Ja, er erfand sogar noch ein paar Dinge dazu.
Die anderen Schmiede wollten ihm nicht glauben. Der eine sagte: «Ach, Donat! Du warst schon immer ein Lügner [18]!» Ein anderer rief: «Ja genau! Zeige uns, dass du die Wahrheit sagst!» Da wurde Donat wütend und sagte: «Wie ihr wollt! Ich zeige es euch gern und dann müsst ihr für immer still sein.» Er riss seine beiden Säcke heraus und wollte die Goldstücke und die Perlen zeigen. Doch was war da geschehen? In dem einen Sack waren nur noch Blätter und im anderen ein paar Beeren. Alle Schmiede lachten.
Donat schämte sich so sehr, dass er aus dem Tal weg ging und nie mehr zurückkam. Auch die Feen sollen an jenem Tag die Grotte für immer verlassen haben.
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Die Grotten bei Valorbe gibt es wirklich. Sie sind sehr bekannt und man kann sie heute noch besuchen. Eine kleine Reise in diese Ecke der Schweiz ist aber auch für Menschen schön, die wie ich nicht gern in Höhlen gehen. Man kann gut verstehen, warum es hier so viele Geschichten über Feen gibt – erst recht wenn es Nebel [19] hat.
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie auch am 9. Mai wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt». Dann werde ich Ihnen die «Sage von der Mordnacht von Luzern» erzählen. Auf Wiederhören!
[1] Feengrotte (die): Grotte (Höhle), in der Feen (verzauberte Wesen) leben sollen
[2] steil: mit sehr starker Neigung, wenn eine Mauer, ein Fels oder eine Strasse fast senkrecht ist
[3] Jura: Name für eine Gegend, ein Gebirge und einen Kanton (Bundesland) der Schweiz
[4] bestrafen: jemandem für einen Fehler eine Strafe, Busse geben
[5] Lamm (das): junges Schaf
[6] bewachen: auf etwas aufpassen
[7] gemeinsam: zusammen, miteinander
[8] Schmiedewerkstatt (die): Werkstatt, in der man schmiedet (Dinge aus metall macht)
[9] krähen: schreien, laut rufen
[10] ein grosses Maul haben: sich wichtig machen, laut und viel reden
[11] beschliessen: sich entscheiden, einen Plan machen
[12] Windhund (der): Hunderasse, die sehr schlank ist und lange Beine hat, wird oft für Rennen verwendet
[13] sich fürchten: vor etwas Angst haben
[14] bedienen: Diener sein, alles für jemanden tun, ihm servieren
[15] verschwinden: plötzlich weg gehen, weg sein
[16] Samt (der): kostbarer, rauher Stoff, den früher nur Könige und sehr reiche Leute hatten
[17] bellen: typisches lautes Geräusch von Hunden
[18] Lügner (der): jemand der lügt, nicht die Wahrheit sagt
[19] Nebel: weisser Dampf, der an kühlen Tagen in der Luft ist