Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur 9. Sendung von "Andrea erzählt" vom 13. Mai 2013. Es freut mich sehr, sind Sie wieder dabei.
Im Moment werden die Tage immer länger und die Leute immer fröhlicher. Jetzt hört man in Zürich wieder überall Musik in den Strassen und am See. Es ist die Zeit der Strassenmusiker. Nicht alle gefallen mir, aber ein paar von ihnen spielen so schön, dass ich manchmal stehen bleibe und alles vergesse. Ich bewundere [1] Menschen, die andere mit ihrer Musik verzaubern können. Darum erzähle ich Ihnen heute das "Märchen vom Buben, der so schön flöten konnte." Es ist aus dem Südwesten der Schweiz.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Sie waren nicht reich, aber auch nicht arm. Sie hatten einen Sohn. Er hiess Hans und hatte eine Flöte, die schöner tönte, als alle anderen Flöten auf der ganzen Welt. Wenn er damit spielte, war es, als würden tausend Vögel singen. Und wenn die Menschen sie hörten, wurden sie froh und hörten auf zu streiten.
Als Hans gross war, sagte sein Vater zu ihm: "Heute nehme ich dich mit in die Stadt. Wir gehen zur Bank [2] und holen das Geld für das nächste Jahr. Dann weisst du, wie das geht, denn ich bin langsam alt." Hans sagte: "Ich komme gern mit, lieber Vater. Aber du bist doch noch nicht alt!" Der Vater lächelte und sie gingen in die Stadt.
Nach einem Jahr sagte der Vater: "Wir brauchen wieder Geld. Aber dieses Mal musst du alleine zur Bank gehen. Den Weg kennst du ja." Hans freute sich. Er nahm seine Flöte und ging in die Stadt. Auf dem ganzen Weg spielte er und war fröhlich. Er holte das Geld und tat es in einen Sack [3].
Auf dem Heimweg sah er viele Menschen, die einen toten Mann schlugen und beschimpften [4]. Hans erschrak und fragte: "Was tut ihr da?" Ein dicker Mann antwortete ihm: "Dieser Mann ist gestorben und hat seine Schulden [5] nicht bezahlt." Da sagte Hans: "Tote muss man in Ruhe lassen! Wie viel Schulden hatte dieser Mann? Ich werde sie bezahlen." Er nahm das ganze Geld aus dem Sack. Nun war er wieder leer. Alle Leute lachten über Hans. Aber ihn störte das nicht.
Als er wieder nach Hause ging, war er sehr glücklich, und wusste gar nicht warum. Doch zuhause wurde der Vater so wütend auf Hans, dass er sagte: "Wie kannst Du nur so blöd sein? Der Tote hat doch nichts gemerkt von den Schlägen! Aber uns fehlt jetzt das Geld."
Nach einem weiteren Jahr sagte der Vater: "Du musst wieder in die Stadt, wir brauchen Geld. Aber diesmal verschenkst du es nicht!" Hans ging in die Stadt und auf dem Heimweg kam er an einem alten Turm vorbei. In der Mauer war ein Loch. Daraus winkte eine zarte [6] Frauenhand. Hans ging zum Turm und fragte: "Wer ist da?" Eine liebe Stimme sagte: "Bitte hilf mir. Ich heisse Violetta und ich bin hier gefangen." Hans nahm einen Stock [7] und machte das Loch so gross, das die junge Frau herauskommen konnte. Sie war sehr schön und dankte ihm.
Nun brachte Hans Violetta in die Stadt und bezahlte The Boy with a flute by Vasily Tropininihr ein Zimmer, in dem sie wohnen konnte. Und wieder war sein Sack leer. Als er heimkam und seinem Vater alles erzählte, wurde der so wütend, dass er sagte: "Geh fort! Ich will dich nie mehr sehen! Ich kann dich nicht mehr brauchen!" Nun hatte Hans kein zu Hause mehr und kein Geld. Aber er hatte immer noch seine Flöte und war fröhlich.
Er ging zurück in die Stadt und besuchte Violetta. Sie freute sich sehr und sagte: "Ich bin so froh, dass ich dich wieder sehe. Weisst du, ich bin eine Prinzessin aus einem Land auf der anderen Seite des Meeres. Mein Vater hat mir Geld geschickt, damit ich nach Hause fahren kann. Kommst Du mit?" Ihre Augen waren so schön, dass Hans nur ganz leise sagen konnte: "Ja."
Hans und Violetta gingen auf ein grosses Schiff. Doch der Kapitän war ein böser Mann. Und der merkte schnell, dass die beiden sich gern hatten. Denn jeden Tag spielte Hans Violetta auf seiner Flöte vor und alle auf dem Schiff wurden fröhlich und sangen. Und jeden Abend spielte er so traurige und süsse Lieder, dass alle ganz still wurden. Dem Kapitän gefiel das gar nicht. Denn er war selbst in Violetta verliebt. Als er hörte, dass sie eine Prinzessin war und Hans nur ein Flötenspieler, sagte er zu sich: "Ich werde Hans töten. Dann gehört Violetta mir."
Mitten auf dem Meer kam ein grosser Sturm. Der Himmel war fast schwarz und der Wind war so laut, dass man nichts anderes mehr hörte. Da warf der Kapitän Hans ins Meer. Doch Hans hatte Glück und fand ein Stück Holz. Er hielt es ganz fest, bis er zu einer einsamen Insel kam.
***
Auf dem Schiff weinte Violetta viele Tage lang. Der böse Kapitän sagte zu ihr: "Liebste Prinzessin, ich bin auch ganz traurig, dass Hans nicht mehr da ist. Aber ich werde dich trösten und bringe dich zu deinem Vater." Als er Violetta zum König brachte, sagte er: "Herr König, ich habe Ihre Tochter aus dem Turm befreit und sie nach Hause gebracht. Jetzt will ich sie heiraten." Der König sagte: "So soll es sein [8]. Ich bin so froh, dass Violetta wieder da ist und ich freue mich, wenn du sie heiratest."
Violetta erschrak und sagte zu ihrem Vater: "Ich werde den Kapitän nur heiraten, wenn du uns zuerst ein grosses Schloss baust. Dort werden wir nach der Hochzeit leben." Der König erfüllte ihren Wunsch. Und Violetta hoffte, dass es ganz lange dauern würde, bis das Schloss fertig wurde.
***
Hans war immer noch auf der Insel im Meer. Er spielte jeden Tag auf seiner Flöte und wartete auf ein Schiff, das ihn mitnehmen könnte. Aber es kam keines. Doch eines Tages schwamm ein Delfin zur Insel und sagte: "Komm auf meinen Rücken. Ich bringe dich an Land." Er trug Hans bis zu dem Land, in dem Violetta lebte. Dann sagte er: "Ich bin der Tote, dem du die Schulden bezahlt hat. Du hast mich erlöst. Jetzt habe ich mich bedankt und bin frei." Als Hans etwas sagen wollte, war der Delfin schon weg.
Hans ging zum Schloss und sah, dass daneben ein neues Schloss gebaut wurde. Er fragte: "Habt ihr hier Arbeit für mich?" So kam es, dass er half, das neue Schloss für den Kapitän und Violetta zu bauen. Jeden Abend nach der Arbeit sass er unter einem Baum und spielte auf seiner Flöte. Als Violetta das hörte, weinte sie und sagte: "Das kann doch nicht sein, Hans ist tot."
Viel zu schnell war das neue Schloss fertig und die Hochzeit kam. Am Tag vor der Hochzeit machte der König ein grosses Fest. Er sagte zu Hans: "Ich habe gehört, dass du so schön Flöte spielst. Darum wirst du für uns Musik machen."
Beim Fest klatschte der König in die Hände und sagte: "So, und jetzt soll uns jeder Gast ein Abenteuer [9] erzählen, das er erlebt hat."
Der Kapitän stand auf und erzählte, wie er Violetta gerettet hatte. Dann sagte Violetta zu Hans: "Lieber Flötenspieler, jetzt möchte ich deine Geschichte hören." Hans stand auf und sagte: "Das mache ich gern. Aber zuerst möchte ich den Kapitän fragen, was er auf seinem Schiff mit Männern macht, die lügen." Der Kapitän sagte: "Sie werden getötet. Ha, ha, ha."
Jetzt erzählte Hans seine Geschichte. Und als er fertig war, umarmte Violetta ihn und gab ihm einen Kuss. Dann sagte sie zum König: "Vater, seine Geschichte ist wahr. Er ist mein echter [10] Retter. Darum werde ich ihn heiraten und nicht den Kapitän."
Der Kapitän wurde gefangen und der König wollte ihn töten. Aber Hans sagte: "Lieber Herr König, ich möchte nicht, dass jemand getötet wird." Darum wurde der Kapitän nur auf sein Schiff gebracht und über das Meer geschickt. Violetta und Hans heirateten und hatten viele Kinder. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.
Ich hoffe, dass auch die Kinder und Enkelkinder von Hans so schön Flöte spielen konnten, wie er. Und Ihnen wünsche ich, dass Sie die langen Tage geniessen können und ab und zu jemandem begegnen, der für Sie Musik macht und Sie verzaubert.
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie auch am 24. Mai wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst "Andrea erzählt" Dann werde ich Ihnen "Das Märchen vom Vogel, der die Wahrheit sang" erzählen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Auf Wiederhören!
1 bewundern: verehren, mit Respekt behandeln
2 Bank (die): Ort, an den man sein Geld hinbringt, damit es sicher ist
3 Sack (der): Beutel
4 beschimpfen: schimpfen, verfluchen
5 Schulden (die): etwas, das man jemanden noch nicht wieder zurückgegeben hat, meistens Geld
6 zart: fein, zerbrechlich
7 Stock (der): längliches stück Holz, zum Beispiel ein Ast
8 so soll es sein: eine etwas altmodische Formulierung, um zu sagen, «ok, ich bin einverstanden.»
9 Abenteuer (das): ein aufregendes Erlebnis
10 echt: wahr