Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung «Andrea erzählt» vom 11. Oktober 2013. Es freut mich sehr, sind Sie wieder dabei.
Es gibt vieles, was für uns in der Schweiz zum Herbst gehört: Trauben, Kastanien, Nebel [1] und farbige Wälder. Auch eine ganz einfache Frucht gehört dazu, auf die ich immer schon im Sommer warte: der Apfel. Heute kann man natürlich auch im Sommer Äpfel kaufen. Aber sie werden dann von der anderen Seite der Erde gebracht. Das finde ich dumm. Darum warte ich jeweils lieber, bis es wieder Äpfel aus der Schweiz gibt.
Jetzt sind sie wieder da, in allen Farben von Gelb bis Rot. Das freut mich sehr. Darum erzähle ich Ihnen heute die «Geschichte von den drei goldenen Äpfeln». Sie kommt aus dem Süden der Schweiz, wo die Menschen eigentlich Italienisch sprechen. Viel Vergnügen!
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Die goldenen Aepfel (c) Ilya KabakoEs war einmal ein Prinz. Er war schon lange alt genug, um zu heiraten. Aber er wollte keine der Frauen in seinem Land haben. Er sagte zu seinem Vater: «Ich will die Fee [2] von den drei goldenen Äpfeln heiraten und keine andere. Darf ich weg gehen und sie suchen?» Der König verstand seinen Sohn nicht. Er sagte: «Warum willst du eine Fee heiraten? Du kennst sie doch nur aus den Geschichten deiner Mutter. Du weisst ja nicht einmal, ob es sie gibt. Aber ich werde dich gehen lassen.»
Also umarmte [3] der Prinz seinen Vater und ging. Auf seiner Reise traf er eine alte Frau. Er fragte sie: «Gute Frau, weisst du, wo ich die Fee von den drei goldenen Äpfeln finde?» Sie antwortete: «Nein, das weiss ich nicht. Aber ich weiss, dass man dafür fünf Dinge braucht: einen Sack voll Körner, einen Sack voll Brot, einen Ast [4], einen Besen und ein Seil.»
Der Prinz ging in das nächste Dorf und kaufte all diese Dinge. Dann suchte er weiter nach der Fee von den drei goldenen Äpfeln. Plötzlich sah er drei grosse Adler [5]. Sie flogen schnell auf ihn zu und wollten ihm die Augen auskratzen. Da warf der Prinz ihnen den Sack voll Körner hin und rief: «Nehmt das und lasst mich in Ruhe die Fee von den drei goldenen Äpfeln suchen!» Sofort liessen die Adler ihn in Frieden.
Der Prinz ging weiter. Doch schon bald kamen ihm drei Hunde entgegen. Sie rannten schnell auf ihn zu und wollten ihn ins Bein beissen. Da warf der Prinz ihnen den Sack voll Brot hin und rief: «Nehmt das und lasst mich in Ruhe die Fee von den drei goldenen Äpfeln suchen!» Sofort liessen die Hunde ihn in Frieden.
Der Prinz ging weiter. Doch schon bald traf er ein paar Männer. Sie versuchten, einen schweren Stein zu heben, aber sie waren dafür nicht stark genug. Da gab der Prinz ihnen den grossen Ast und sagte: «Nehmt das. Damit könnt ihr die Steine besser aufheben. Nun muss ich weiter und die Fee von den drei goldenen Äpfeln suchen!» Die Männer waren froh und wünschten ihm viel Glück.
Der Prinz ging weiter. Doch schon bald traf er einen Bäcker [6]. Er putzte seinen grossen Ofen mit den Händen und war schon ganz schwarz davon. Da gab der Prinz ihm den Besen und sagte: «Nimm das. Damit kannst du den Ofen putzen, ohne dass du schmutzig wirst.
Nun muss ich weiter und die Fee von den drei goldenen Äpfeln suchen!» Der Bäcker war froh und wünschte ihm viel Glück.
Der Prinz ging weiter. Doch schon bald traf er eine Frau. Sie zog das Wasser in einem schweren Eimer [7] aus einem Brunnen hoch und fiel dabei fast in das tiefe Loch. Da gab der Prinz ihr das Seil und sagte: «Nimm das. Damit kannst du das Wasser aus dem Brunnen holen, ohne dass du dabei fast hinein fällst. Nun muss ich weiter und die Fee von den drei goldenen Äpfeln suchen!» Die Frau war froh und wünschte ihm viel Glück.
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Endlich kam der Prinz zu einem Haus. Er klopfte. Aber niemand machte ihm die Türe auf. Da ging er hinein. In einem Zimmer stand ein Tisch. Darauf lagen drei Äpfel aus Gold. Der Prinz nahm sie und ging schnell aus dem Haus weg. Doch eine Hexe sah ihn dabei und lief ihm nach. Sie schrie: «Du Dieb! Bleib stehen! Sofort!» Aber der Prinz hörte nicht auf sie und rannte bis zu dem Brunnen, wo die Frau das Wasser mit dem Seil herauszog. Die Hexe rief: «Halte ihn fest!» Aber die Frau sagte: «Nein, das werde ich nicht tun. Der Prinz hat mir nämlich dieses Seil geschenkt.»
Dann kam der Prinz zum Bäcker und die Hexe rief wieder: «Halte ihn fest!» Aber der Bäcker sagte: «Nein, das werde ich nicht tun. Der Prinz hat mir nämlich diesen Besen geschenkt.» Und so halfen auch die Männer mit den schweren Steinen dem Prinzen und die Hunde und sogar die Adler. Endlich hörte die Hexe auf, hinter ihm herzurennen.
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Nach dem vielen Rennen war der Prinz ganz müde. Er setzte sich unter einen Baum und nahm einen goldenen Apfel aus der Tasche. Er glänze in der Sonne. Plötzlich zerbrach der Apfel und es kam ein schönes Mädchen heraus. Es sagte: «Ich habe Durst. Gib mir Wasser!» Der Prinz antwortete: «Oh! Ich habe kein Wasser. Es tut mir leid.» Da sagte das Mädchen: «So muss ich sterben.» Dann war sie weg.
Der Prinz wurde sehr traurig und suchte einen Bach. Dort setzte er sich hin und nahm den zweiten Apfel aus der Tasche. Auch er zerbrach. Und wieder kam ein wunderschönes Mädchen heraus. Es sagte: «Ich habe Durst. Gib mir Wasser!» Der Prinz antwortete: «Schau, hier im Bach hat es Wasser.» Doch da war der Bach vertrocknet [8] und alles Wasser war weg. Da sagte das Mädchen «So muss ich sterben.» Dann war auch sie weg.
Der Prinz wurde noch trauriger und suchte einen Brunnen. Dort setzte er sich hin und holte den letzten Apfel heraus. Als der Apfel zerbrach, kam daraus das schönste Mädchen, das der Prinz je gesehen hatte. Auch es sagte: «Ich habe Durst. Gib mir Wasser!» Der Prinz gab ihm einen Becher mit frischem, klarem Wasser. Das Mädchen trank drei Becher davon. Nun sagte der Prinz: «Bleib hier und warte auf mich. Ich gehe schnell in mein Schloss und hole eine schöne Kutsche [9], Pferde und Diener für dich.»
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Der Prinz ging glücklich davon und das schöne Mädchen blieb beim Brunnen. Doch da kam die alte Hexe zu dem Brunnen, um Wasser zu holen. Als sie das schöne Mädchen sah, wurde sie sehr neidisch. Sie sagte: «Lass mich deine schöne Haare kämmen.»
Und während sie ihre langen, goldenen Haare kämmte, steckte sie dem Mädchen eine verzauberte Nadel hinein. Da wurde das Mädchen zu einer weissen Taube [10] und flog davon.
Die Hexe aber blieb beim Brunnen und wartete auf den Prinzen. Als er mit der Kutsche kam, frage er: «Mädchen, was ist denn mit dir passiert? Du siehst so anders aus.» Die Hexe antwortete: «Ah, das kommt vom Hunger. Gib mir etwas zu essen und ich werde wieder schön.»
Da nahm der Prinz die Hexe mit ins Schloss und sagte zu seinem Koch: «Mach uns ein feines Essen. Aber schnell!» Als der Koch ein grosses Stück Fleisch in die Pfanne legte, kam die weisse Taube in die Küche und fing an zu singen: «Du lieber schöner Koch, schlaf fröhlich jetzt ein.» Der Koch schlief sofort ein und das Fleisch brannte an.
Das ganze passierte drei Mal. Jedes Mal, wenn der Koch ein neues Stück Fleisch in die Pfanne legte, sang die weisse Taube, er schlief ein und das Fleisch verbrannte.
Als der Koch endlich etwas zu Essen brachte, setzte sich die weisse Tauben mitten auf den Teller. Da streckte der Prinz seine Hand aus, und die Taube flog zu ihm. Er streichelte sie. Dabei fand er die Nadel in ihren Federn. Er zog sie heraus. Sofort wurde aus der Taube wieder das schöne Mädchen vom Brunnen. Sie sagte: «Lieber Prinz, ich bin deine Fee von den drei goldenen Äpfeln. Nun gehöre ich für immer dir.»
Der Prinz liess die Hexe in den Fluss werfen und heiratete das Mädchen noch am gleichen Tag. Die beiden lebten in grossem Glück und hatten viele Kinder mit Wangen so rot wie Äpfel und Haaren aus Gold.
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Aus so etwas Einfachem, wie einem Apfel kam so etwas Wunderbares heraus, wie eine Fee. Ich finde, das passt sehr gut. Wenn ich daran denke, was man mit Äpfeln alles machen kann, werden sie wirklich zu Zauber-Früchten: Verschiedenste Apfelkuchen, gebackene Äpfel, Apfelküchlein mit Vanillesauce oder Apfelmus [11] und vieles mehr. Nun wünsche ich Ihnen viel Spass beim Zaubern mit Äpfeln.
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie auch am 25. Oktober wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt». Dann werde ich Ihnen «Die Geschichte von der heiligen Idda» erzählen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Auf Wiederhören!
[1] Nebel (der): weisser Wasserdampf, Wolken, die nahe am Boden oder über Flüssen und Seen liegen
[2] Fee (die): ein weibliches Zauberwesen, das sanft und gut ist
[3] umarmen: in den den Arm nehmen
[4] Ast (der): Zweig oder Arm von einem Baum
[5] Adler (der): grosser Raubvogel
[6] Bäcker (der): jemand, der Brot und Kuchen bäckt und verkauft
[7] Eimer (der): grosses Gefäss, Kessel
[8] vertrocknet: ausgetrocknet, trocken, ohne Wasser
[9] Kutsche (die): Fahrzeug, das von Pferden gezogen wird
[10] Taube (die): mittelgrosser Vogel, der ein Zeichen des Friedens ist
[11] Apfelmus: ein Brei aus weichgekochten Äpfeln, den man kalt oder warm essen kann