Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung «Andrea erzählt» vom 22. November 2013. Es freut mich sehr, sind Sie wieder dabei.
Nun wird es langsam wirklich Winter. Es heisst, dass er dieses Jahr ganz besonders kalt werden soll. Für uns ist das nicht so schlimm. Wir haben warme Wohnungen und Häuser. Aber für Menschen, die kein Zuhause haben oder nur sehr wenig Geld, ist diese Jahreszeit hart. Wärme ist für sie etwas sehr Kostbares [1]. Man kann gut verstehen, warum Kohlen [2] früher auch das «schwarze Gold» genannt wurden. Darum habe ich heute für Sie «die Geschichte von den goldenen Kohlen» ausgesucht. Sie erinnert uns auf schöne Art daran, wie wichtig Wärme und Feuer sind. Viel Vergnügen!
Gold nugget (c) Cephas
Es war einmal ein Müller [3]. Er lebte in einer alten, kaputten Mühle [4]. Weil er zu wenig Geld hatte, um zu heiraten, war er allein. Der einzige Mensch, der bei ihm lebte, war Elsa. Sie war seine Magd [5]. Elsa war heimlich in den Müller verliebt und er in sie. Aber keiner wusste das vom anderen.
Einmal an einem Morgen kam Elsa zum Müller und sagte: «Herr, heute früh hat ein Mann Sie gesucht. Er hat mir gesagt, dass Ihre Tante gestorben sei. Das tut mir sehr leid.» Aber der Müller antwortete: «Danke, Elsa. Aber es muss dir nicht leid tun. Ich bin nicht traurig. Meine Tante war ein böser Mensch und sie war sehr geizig [6].»
Bald bekam der Müller einen Brief. Darin stand, dass er alles Geld von seiner Tante bekommen sollte. Er sagte: «Siehst du Elsa, jetzt war es sogar gut, dass meine Tante so geizig war und niemandem Geld gegeben hat. Nun ist noch ganz viel da und ich bekomme alles. Morgen fahre ich hin und hole es. Mache mir Frühstück und wecke mich, sobald die Sonne aufgeht. Gute Nacht.»
Elsa freute sich für den Müller und ging früh zu Bett. Sie dachte: «Wenn ich schon jetzt schlafe, dann bin ich morgen rechtzeitig wach, um dem Müller das Frühstück zu machen. Dann freut er sich sicher.» Damals gab es noch keine Wecker [7], sondern nur den Hahn [8], der krähte [9], wenn die Sonne aufging. Aber die verliebte Elsa wollte ja noch vor Sonnenaufgang wach sein. Darum kann man gut verstehen, dass sie Angst hatte, nicht rechtzeitig zu erwachen.
So kam es, dass die aufgeregte Elsa schon um Mitternacht wieder aufwachte. Als sie die Augen aufmachte, rief sie: «Oh nein, es ist schon hell! Ich muss ganz schnell aufstehen und das Frühstück für den Müller machen.» Dabei merkte sie gar nicht, dass es nur der Vollmond war, der das Haus so hell machte und nicht die Sonne.
Elsa ging schnell in die Küche und wollte Wasser kochen. Da sah sie, dass das Feuer in der Feuerstelle [10] erlöscht [11] war. Sie sagte: «Oh nein, das darf nicht wahr sein. Nun dauert es so lange, bis ich ein Feuer gemacht habe und ich bin doch sowieso schon zu spät.» Weil es damals noch keine Streichhölzer und keine Feuerzeuge gab, brauchte das Feuermachen viel mehr Zeit, als heute.
***
Plötzlich sah Elsa vor dem Fenster ein kleines Licht. Als sie hinausschaute, sah sie ein kleines Feuer auf der Wiese vor dem Wald. Darum herum standen drei Männer mit langen, weissen Mänteln. Sie sagte: «Was für ein Glück! Ich werde mir von ihnen Feuer holen.» Sie nahm das Kohle-Becken [12] und ging schnell zu den Männern hinaus. Sie standen still um das Feuer herum. Keiner sah Elsa an und keiner sprach ein Wort.
Elsa sagte: «Guten Morgen, meine Herren. Bitte entschuldigen Sie mich, aber wir haben kein Feuer mehr. Darf ich mir hier vielleicht drei Kohlen nehmen?» Die Männer sagten immer noch nichts. Elsa wartete einen Moment, dann nahm sie drei Stück Kohle aus dem Feuer und legte sie in ihr Kohle-Becken. Damit ging sie ins Haus zurück. Doch als sie das Kohle-Becken in die Feuerstelle leerte, waren die Kohlen erloschen.
Elsa hatte Angst vor den Männern mit den weissen Mänteln, aber sie sagte: «Ich muss es noch einmal probieren. Sicher kommt der Müller gleich und will wissen, wo sein Frühstück ist.» Also ging sie nochmals zu den drei Männern und sagte: «Meine Herren, bitte entschuldigen Sie, aber wir haben schon wieder kein Feuer mehr. Darf ich mir vielleicht noch einmal drei Kohlen aus Ihrem Feuer nehmen?» Die Männer sagten immer noch nichts. Elsa wartete einen Moment, dann nahm sie drei Stück Kohle aus dem Feuer und legte sie in ihr Kohle-Becken. Doch als sie das Kohle-Becken in ihre Feuerstelle leerte, waren auch diese Kohlen erloschen.
Jetzt wurde Elsa langsam nervös. Als sie im Haus etwas hörte, sagte sie: «Oje, das ist sicher der Müller. Ich muss schnell noch einmal Kohlen holen.» Also ging sie noch ein drittes Mal zu den drei Männern und sagte: «Meine Herren, bitte entschuldigen Sie, aber wir haben immer noch kein Feuer. Darf ich mir vielleicht noch einmal drei Kohlen aus Ihrem Feuer nehmen?» Da hob der älteste der drei Männer den Kopf und sah sie an. Dann sagte er: «Nun komm aber nie wieder!» Erschrocken legte Elsa ihre Kohlen in das Kohle-Becken und rannte zum Haus zurück. Aber als sie dieses in die Feuerstelle leerte, waren die Kohlen schon wieder erloschen.
Die arme Elsa wusste nicht mehr, was sie tun sollte und setzte sich müde auf einen Stuhl. In diesem Moment ging der Mond unter. Plötzlich war es ganz dunkel im Haus. Elisa ging zum Fenster. Draussen war es Nacht. Das Feuer und die drei Männer waren weg. Da läutete die Kirchenglocke einmal. Die Geisterstunde [13] war vorbei. Elsa schüttelte den Kopf und sagte: «Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Am besten ich gehe einfach zurück in mein Bett. Das alles war sicher nur ein böser Traum.»
Am nächsten morgen früh erwachte Elsa trotz allem zur rechten Zeit. Sie war zwar sehr müde, aber sie ging schnell in die Küche, um das Frühstück für den Müller zu machen.
Als sie in die Feuerstelle schaute, konnte sie ihren Augen kaum glauben: Dort lagen neun goldene Kohlen. Elsa lachte und rief: «Dann habe ich doch nicht geträumt. Wie wunderbar!» Der Müller kam in die Küche und auch er freute sich sehr: «Liebe Elsa, jetzt sind wir beide nicht mehr arm. Ich habe das Geld von meiner Tante und du hast die goldenen Kohlen. Nun kann ich endlich heiraten. Liebe Elsa, willst du meine Frau werden?»
Elsa war die glücklichste Magd auf der ganzen Welt. Aber nicht für lange. Denn nach der Hochzeit war sie nicht mehr die Magd des Müllers, sondern seine Frau. Die beiden lebten lange und glücklich. Nur wenn der Vollmond schien, machte Elsa schnell alle Vorhänge zu. Die drei Männer mit den weissen Mänteln hatten sie zwar glücklich gemacht. Aber die Angst von jener Nacht konnte sie trotzdem nie ganz vergessen.
***
Also gut, ich bin jetzt ehrlich zu Ihnen: Eigentlich findet in der Geschichte der Müller die Kohlen und nicht seine Magd. Und dass sie geheiratet haben, steht da auch nicht. Aber so gefällt mir die Geschichte viel besser. Und das ist ja das Schöne an Märchen: Anders als im richtigen Leben, können da wir entscheiden, was passieren soll. Probieren Sie es mal aus! Es macht Spass – vor allem an langen Winterabenden.
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie auch am 6. Dezember wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt» Dann werde ich Ihnen «Die Geschichte vom heiligen Nikolaus» erzählen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Auf Wiederhören!
[1] etwas Kostbares: etwas Wertvolles, Teures
[2] Kohle (die): schwarzer Brennstoff aus fossilem Holz, wurde vor allem früher zum Heizen benutzt
[3] Müller (der): Beruf, jemand, der Mehl macht (aus Korn)
[4] Mühle (die): Ort, an dem aus Korn Mehl gemacht wird
[5] Magd (die): weibliche Angestellte, die alle harten Arbeiten macht
[6] geizig: jemand, der alles Geld für sich behält und damit nichts kauft und es auch niemandem schenkt
[7] Wecker (der): Uhr, die zu einer bestimmten Zeit läutet, damit man erwacht
[8] Hahn (der): männliches Huhn
[9] krähen: schreien, laut rufen
[10] Feuerstelle (die): Ort, an dem Feuer gemacht wird, früher kochte man hier
[11] erlöschen: nicht mehr brennen
[12] Becken (das): flaches Gefäss, Schüssel, um Dinge reinzutun, z.B. aus me-tall, Porzellan (oder Kunststoff)
[13] Geisterstunde (die): die Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr nachts, viele Menschen glauben, dass in dieser Zeit die Geister wach sind