Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich freue mich sehr, dass Sie heute am 18. Januar 2013 mit dabei sind, wenn es zum ersten Mal heisst: "Andrea erzählt". Gerne möchte ich mich Ihnen kurz vorstellen: Ich bin 43 Jahre alt, Journalistin und Figurenspielerin aus Zürich - und ich liebe Geschichten, wahre und erfundene. Ab heute werde ich Ihnen alle zwei Wochen neue Märchen und Abenteuer aus der Schweiz erzählen, lustige, traurige oder aufregende. Meine erste Sendung bietet mir auch gleich Gelegenheit, auf ein ganz besonderes PodClub-Jubiläum hinzuweisen: Alicia, unsere Spanisch-Podcasterin, veröffentlicht ihre 100. Sendung "A mi aire". Liebe Alicia, ich gratuliere dir hiermit ganz herzlich!
Und nun erzähle ich Ihnen die Geschichte von der "Jungfrau vom Morteratsch". Es ist eine Geschichte über eine verlorene Liebe. Sie zeigt, dass auch die Schweiz nie nur ein Land für reiche Menschen war. Vor allem in den Bergen war Armut immer ein grosses Thema. Ich wünsche Ihnen viel Spass und einen guten Start ins neue Jahr.
Der Himmel vor meinem Fenster ist grau. Das ist nichts Besonderes. Es ist Winter. Und in dieser Jahreszeit liegt Zürich meist unter einer grauen Decke aus Hochnebel [1]. Mich stört das nicht. Ich Morteratschgletscherkann dann am besten arbeiten und meine Theaterfiguren machen. Denn bei schlechtem Wetter habe ich nicht immer das Gefühl, die Sonne draussen zu verpassen. Aber ab und zu wünsche ich mir trotzdem, dass ich Zeit hätte, mit dem Zug ins Bündnerland zu fahren. Dieser Teil der Schweiz besteht vor allem aus Bergen. Er ist nur zwei, drei Stunden von Zürich entfernt und dort scheint fast immer die Sonne. Der Himmel ist so blau, wie nirgends auf der Welt und der Schnee ist weiss wie Zucker. Weil ich im Moment keine Zeit habe, selbst dorthin zu fahren, nehme ich Sie wenigstens in Gedanken mit. Wir machen gemeinsam eine Pause vom Alltag und reisen zusammen auf einen Gletscher [2]. Er heisst Morteratsch und hat ein uraltes Geheimnis. Das möchte ich Ihnen heute verraten.
Mitten in diesem Gletscher, nahe unter dem Himmel, liegt ein Fels. Er ist weit weg vom Alltag in der Stadt - und sogar von den Ski-Touristen. Er heisst "Isla persa". Das ist Romanisch, eine seltene Sprache, die in bestimmten Bündner Tälern gesprochen wird, und bedeutet "die verlorene Insel".
Auf diesem winzigen Stück Schweiz lebte vor langer Zeit ein junger Mann mit seinen Kühen. Er hiess Aratsch. Jeden Sommer kam er mit seinen Tieren auf diese Alp [3], damit sie sich für den Winter mit Gras satt fressen konnten.
Eines Tages verliebte Artasch sich bei einem Fest in die schöne Annette. Sie war die Tochter des reichsten Mannes im Tal. Doch Annettes Vater war gegen diese Liebe: "Meine Tochter muss einen reichen Mann heiraten", sagte er wütend zu Aratsch. "Du bist viel zu arm für sie."auch in den Schweizer Bergen ist es nicht anders, als überall auf der ganzen Welt: Die Liebe kümmert sich nicht um Geld. Aratsch nahm seinen ganzen Mut zusammen und antwortete: "Reicher Mann, ich möchte deine Tochter trotzdem heiraten. Bitte erlaube es mir!"
"Vergiss meine Tochter, du Nichtsnutz [4]", sagte Annettes Vater. "Meine Tochter heiratet keinen armen Mann. Aber ich will gerecht sein. Wenn du es schaffst, selbst ein reicher Mann zu werden, kannst du sie haben."
Also beschloss Aratsch reich zu werden. Weil es in den Bergen keine Arbeit gab, bei der man viel Geld verdienen konnte, musste er dafür ins Ausland. Er packte seine wenigen Sachen und küsste Annette zum Abschied auf die Stirn. Dabei hielt er ihre Hand ganz fest und sagte: "Liebste, ich komme wieder. Das verspreche ich dir. Und dann heiraten wir."
Annette weinte und versprach: "Ich warte auf dich. Auch wenn es vielleicht ganz lange dauert, bis Du wieder kommst. Ich werde nie einen anderen Mann heiraten."
Aratsch wanderte über viele Berge, durch Täler und arme Dörfer. Dann, in einem fernen Land, fand er endlich Arbeit als Soldat. Das war damals für viele Schweizer die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Aratsch war ein mutiger Kämpfer. Jeden Tag und jede Nacht dachte er an Annette und daran, dass er sie eines Tages heiraten würde. Schon bald wurde er vom Soldat zum Hauptmann befördert.
In der Zwischenzeit war Annette daheim sehr traurig. Sie hatte schon so lange nichts mehr von Aratsch gehört und sie hatte Angst. "Mein Liebster, wo bleibst du nur? Hast du mich vergessen?" fragte sie jeden Tag.
"Frau, ich mache mir Sorgen um unser Mädchen", sagte Annettes Vater zu seiner Frau. "Sie isst nicht und sie schläft nur sehr wenig. Sie wird immer bleicher und dünner. Es tut mir so leid, dass ich ihr diese Heirat nicht erlaubt habe. Das war dumm von mir." Seine Frau antwortete: "Du musst Leute losschicken, die Aratsch suchen. Nur so wird unsere Tochter wieder froh". Doch damals war das nicht so einfach wie heute. Der Vater schickte seine Boten zwar überallhin, um den Bräutigam [5] seiner Tochter zu finden. Doch niemand hatte Glück.
****
An einem kühlen Maitag läuteten im ganzen Tal die Kirchenglocken. Es waren die Totenglocken. Sie läuteten für Annette. Nach drei harten Wintern des Wartens auf Aratsch, war sie vor Kummer gestorben. Das ganze Tal war sehr traurig. Vor allem Annettes Eltern weinten und machten sich Vorwürfe.
Am selben Abend ritt ein stolzer Offizier ins Tal. Es war Aratsch, der endlich nach Hause gekommen war, um Annette zu heiraten. "Grüss Gott, Fremder", sagten die Leute am Wegrand. Doch er schaute sie nicht an und ritt schweigend auf das Haus von Annettes Eltern zu. Ohne zu klopfen trat er ein. In der Stube lag die schöne Annette auf einem Bett, bleich und stumm wie ein Engel. Sie war geschmückt mit Edelweiss [6] und Enzian [7]. Aratsch streichelte sanft ihre gefalteten Hände. Er weinte und sagte: "Es tut mir so leid, dass ich zu spät gekommen bin". Dann ritt er zu seiner Alp hinauf und sprang mit seinem Pferd in die tiefe Schlucht [8] neben dem Gletscher.
Ab diesem Tag hörte man auf der Alp, auf der Aratsch früher mit seinen Kühen gelebt hatte, jede Nacht Schritte. Jemand ging heimlich in der Hütte umher, streichelte die Kühe und trank von ihrer frischen Milch. Eine traurige Stimme weinte und rief: "Mort Aratsch, mort Aratsch." Das heisst auf romanisch: "Aratsch ist tot". Es war die Stimme von Annettes Geist.
***
Zu jener Zeit wohnte ein alter Mann in der Hütte auf der Alp. Er hiess Barba Gian. Der Mann mochte den Geist der armen Annette. Denn er hatte längst gemerkt, dass dieser auf das Haus und die Tiere aufpasste. Die Kühe gaben viel mehr Milch als früher und hatten keine Unfälle mehr.
Bevor Barba Gian starb, erzählte er seinem Nachfolger [9] von dem Geheimnis und sagte: "Du musst nicht erschrecken. Jede Nacht kommt der Geist von Annette auf die Alp. Störe ihn nie. Du wirst es nicht bereuen." Doch der junge Mann glaubte Barba Gian nicht und hörte nicht auf ihn. Als der Mann seine erste Nacht auf der Alp verbrachte, erschien der Geist wie immer. Leise ging der Mann ihm nach und beobachtete ihn. Sobald der Geist den Löffel nahm, um die Milch zu probieren, schimpfte er: "Was fällt dir ein, von meiner Milch zu stehlen. Verschwinde von hier. Ich will dich nie mehr sehen."
Annettes Geist sah ihn traurig an. Der Mann hatte ihr soeben das Letzte genommen, was sie noch an Aratsch erinnert hatte. Weinend verschwand sie. Plötzlich ging ein furchtbares Gewitter über der Alp nieder. "Ich verfluche diese Alp und alle Tiere", flüsterte der Geist von Annette. Dann war es ganz still.
Ab diesem Tag wuchs immer weniger Gras auf der Alp. Die Kühe wurden dünn und krank. Der alte Gletscher kroch [10] über die Wiesen und Felsen und bedeckte schon bald die Alp und die kleine Hütte. Nur der Fels in seiner Mitte schaut bis heute aus dem Eis hervor. Er erinnert an die "Isla persa", an die verlorene Insel auf der Alp. Auch der Name des Gletschers erzählt von dieser traurigen Liebe: Er heisst Morteratsch. Mort Aratsch. Aratsch ist tot.
Viele Leute sagen, dass man in stillen Nächten immer noch hört, wie die arme Annette nach ihrem Liebsten ruft. Und immer wieder berichten Menschen, sie hätten an nebligen Tagen eine Frau gesehen, die mit wirrem [11] Haar auf dem Gletscher herumläuft.
****
1 der Hochnebel: Nebel, der als dicke Schicht den Himmel bedeckt.
2 der Gletscher: eine grosse Eisschicht, die auch im Sommer liegenbleibt und die meist
sehr alt ist
3 die Alp: Wiese in den Bergen, auf der im Sommer die Kühe leben
4 der Nichtsnutz: abschätzige Bezeichnung für einen Menschen, dem man nichts zutraut
5 der Bräutigam: Mann, der heiratet (das männliche Gegenstück zur Braut)
6 das Edelweiss: weisse Bergblume
7 das Enzian: blaue Bergblume
8 die Schlucht: ein tiefes, enges Tal
9 der Nachfolger: eine Ablösung
10 kriechen: sich langsam und nahe am Boden vorwärts bewegen
11 wirr: wild und durcheinander