Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur 16. Sendung von «Andrea erzählt» vom 13. September 2013. Es freut mich sehr, sind Sie wieder dabei.
Am 26. September ist der 13. «Europäische Tag der Sprachen» und auch in dieses Jahr ist die Migros Klubschule mit dabei.
Für die meisten von uns ist es völlig normal, dass wir mindestens eine Sprache sprechen können. So können wir sagen, was wir denken und fragen, was wir wissen möchten. Aber was wäre, wenn wir das plötzlich nicht mehr könnten? Ich finde diese Frage sehr interessant. Darum erzähle ich Ihnen heute die Geschichte der kleinen Seejungfrau. Es ist eigentlich keine Schweizer Geschichte. Sie heisst «Die kleine Meerjungfrau [1]» und wurde von dem dänischen Schriftsteller Hans-Christian Andersen geschrieben. Aber für den «Europäischen Tag der Sprachen» habe ich sie in die Schweiz geholt und aus ihr die «Seejungfrau vom Walensee» gemacht. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
Walensee (c) Friedrich Böhringer
Mitten in der Schweiz gibt es ein Loch. Es ist gefüllt mit kaltem, dunkelgrünem Wasser und heisst Walensee. Auf beiden Seiten des Walensees hat es hohe Wände aus Felsen. Der Walensee ist so tief, dass kein Sonnenlicht bis zum Boden kommt. Darum ist es dort immer ganz dunkel. Hier lebte einmal ein See-König in einem Schloss aus weissen Muscheln [2]. Er hatte sechs Töchter. Sie waren Seejungfrauen. Das heisst: Sie hatten keine Beine, sondern einen Fisch-Schwanz.
Der See-König liebte seine Töchter sehr. Aber am meisten liebte er die kleinste von ihnen. Sie hiess Alma. Sie war die schönste und auch die wildeste von allen. Darum wollte der See-König sie immer bei sich haben. Wenn die anderen Schwestern in den See hinaus gingen sagte er: «Alma, du bist noch zu kein, um mit ihnen zu gehen. Du bleibst bei mir.» Aber Alma sagte jedes Mal: «Ach Vater, ich bleibe sehr gern bei dir. Aber du hast doch sicher Hunger. Lass mich nur ganz schnell in den See hinaus schwimmen [3]. Dann bringe ich dir wieder Muscheln zum Essen.» Und weil der König so gerne ass, sagte er: «Also gut. Aber bring mir nicht zu viele. Sonst werde ich zu dick.» Dann lachte Alma, gab ihm einen Kuss und ging.
Aber sie ging nicht nur zu dem Felsen mit den Muscheln. Zuerst ging sie immer in eine Höhle in der Nähe des Ufers [4]. Dort hatte sie ein Versteck [5]. Hier waren alle Dinge, die sie im Wasser gefunden hatte. Ein kaputter Teller mit blauen Blumen darauf, ein Kleid aus gelbem Stoff und eine kleine Figur aus Stein. Sie zeigte einen wunderschönen Jungen.
Alma wusste, dass ihr Vater alle Dinge hasste, die von den Menschen kamen. Er hatte Angst, dass eines Tages ein Mensch sein Schloss finden könnte. Daher sagte er zu seinen Töchtern: «Ich liebe euch sehr. Aber wenn eine von euch zu den Menschen hinauf schwimmt, darf sie nie wieder in mein Schloss zurückkommen. Dann wäre mein Herz für immer gebrochen [6].» Weil Alma ihren Vater sehr liebte, sagte sie ihm nicht, dass sie diese Dinge gefunden hatte.
Der See-König merkte nie etwas.
Doch einmal, an einem sonnigen Nachmittag, schwamm Alma wieder zu ihrem Versteck. Die Sonne schien [7] so schön durch das dunkelgrüne Wasser, dass es richtig leuchtete.
Da wollte Alma etwas näher herangehen. Sie schwamm dem Licht nach, bis sie ganz oben war. Dort steckte sie zum ersten Mal in ihrem Leben den Kopf aus dem Wasser. Was sie da sah, war schöner, als alles, was sie je gesehen hatte. Der Himmel war blau, am Ufer standen Apfelbäume mit roten Äpfeln und auf der Wiese hatte es gelbe Blumen. In der Luft sah Alma Fische fliegen, die schöne Lieder sangen. Das waren natürlich Vögel, doch das wusste sie nicht.
Dann sah sie am Ufer einen Jungen. «Oh!» sagte Alma zu sich selber, «Er sieht aus, wie meine kleine Figur. Er ist so wunderschön.» Dann erschrak sie und dachte: «Was tue ich hier? Wenn Vater das herausfindet, darf ich nie mehr ins Schloss zurück.» An diesem Tag brachte sie ihrem Vater besonders viele Muscheln.
Doch Alma konnte einfach nicht vergessen, was sie gesehen hatte. Eines Tages kam ein grosser Sturm über den Walensee. Er machte so grosse Wellen, dass ein Schiff unterging. Alle Menschen darauf ertranken [8]. Dazu gehörte auch der schöne Junge. Alma fand ihn und nahm ihn in den Arm. Sie sagte: «Ich bringe dich zu meinen Schätzen.» Aber dann erinnerte sie sich daran, dass Menschen unter Wasser sterben. Sie brachte den Jungen wieder nach oben und legte ihn ans Ufer. Dann versteckte sie sich hinter einem Felsen und wartete. Sie sah, wie ein schönes Mädchen zu dem Jungen ging und ihn weckte. Er öffnete die Augen und lächelte. Dann sagte er: «Danke, du hast mir das Leben gerettet [9].»
Alma wurde sehr traurig und schwamm zurück ins Schloss. Sie dachte: «Es ist besser so. Ich muss den Jungen vergessen. Ich gehe nie wieder nach oben.» Aber Alma konnte den Jungen nicht vergessen. Sie hatte sich verliebt. Die See-Hexe [10] wusste das. Und weil sie den See-König hasste [11], hatte sie eine Idee. Sie dachte: «Endlich kann ich dem See-König wehtun. Ich nehme ihm die liebste Tochter weg.» Dann ging sie zu Alma und sagte: «Liebes Kind, du sieht so traurig aus. Du bist verliebt. Ich kann dir helfen. Ich gebe dir Beine und dann kannst du zu deinem Jungen gehen.» Alma antwortete: «Aber dann kann ich nicht ja mehr zu meinem Vater zurück.» Da sagte die See-Hexe: «Bald findet er sowieso heraus, dass du bei den Menschen oben warst. Dann kannst du auch nicht mehr zurück.»
Da weinte Alma und sagte: «Du hast sicher Recht. Was muss ich tun? Was willst du von mir?» Die See-Hexe sagte: «Nicht viel. Ich gebe dir Beine und du gibst mir dafür deine Stimme. Du wirst nie mehr sprechen können. Dafür bist du ein Mensch. Aber nur für ein Jahr. In diesem Jahr muss der Junge dich küssen. Wenn er es nicht tut, wirst du sterben und deine Seele wird zu Schaum [12].»
Alma sagte: «Also gut.» Das waren die letzten Worte, die sie je sprach. Dann schlief sie ein. Bald erwachte sie am Ufer des Walensees und sah: Sie hatte Beine! Neben ihr sass der Junge. Er fragte: «Wer bist du? Du bist ja ganz nass. Kommst du aus dem Wasser?» Alma wollte etwa sagen, doch sie hatte keine Sprache mehr. Sie nickte nur. Der Junge sagte: «Ich nehme dich mit zu mir. Dort kannst du dich wärmen und etwas essen.»
Alma lächelte ihn an und er lächelte zurück.
Aber als sie zu dem Haus kamen, in dem der Junge mit seinem Vater lebte, sah Alma dort das Mädchen, das ihn nach dem Sturm geweckt hatte.
Der Junge sagte: «Das ist Selina. Sie hat mir das Leben gerettet. Darum werde ich sie heiraten.» Alma fühlte sich, als hätte jemand ihr ein Messer ins Herz gesteckt. Sie wollte sagen: «Aber das war doch ich. Ich habe dein Leben gerettet, nicht sie.» Doch sie konnte nicht sprechen.
Alma blieb fast ein Jahr lang bei dem Jungen im Haus. Dann sagte er zu ihr:«Ich liebe dich. Ich möchte dich so gern heiraten. Aber mein Vater will, dass ich endlich das Mädchen heirate, das mir das Leben gerettet hat. Was sollen wir tun? Bitte, sag etwas!» Da musste Alma weinen. Sie dachte: «Bitte, bitte küsse mich einfach. Morgen ist ein Jahr vorbei und ich muss sterben.» Doch da kam der Vater herein und sagte: «Komm jetzt. Wir müssen alle Leute im Dorf für die Hochzeit einladen.» Der Junge sagte zu Alma: «Ich hätte so gern einmal mit dir geredet.» Dann ging er.
Alma ging zum Walensee. Dort sah sie ihre Schwestern im Wasser. Sie winkten ihr zu. Alma dachte: «Wie schön! Ihr habt mich nicht vergessen! Sagt Vater, dass ich ihn liebe.» Dann sass sie still und wartete auf den Morgen. Als die Sonne kam, wurde Alma ganz leicht. Ihre Traurigkeit war plötzlich weg. Sie war zu Schaum geworden. Die Wellen trugen sie auf den Walensee hinaus. Almas Seele war frei. Am Ufer hörte man die Hochzeitsglocken läuten.
***
Was für eine traurige Geschichte! Und alles nur, weil Alma keine Sprache hatte. Darum bin ich sehr froh, dass das im richtigen Leben nicht passiert. Aber manchmal sagen auch wir nichts, wenn es wichtig wäre. Und die Liebe oder die Gerechtigkeit gehen kaputt, nur weil wir die Sprache nicht gebraucht haben. Darum ist heute ein guter Tag, um daran zu denken, wie wichtig die Sprache für uns Menschen ist.
Vielleicht haben Sie ja besonders Glück und gewinnen im Wettbewerb der Migros Klubschule einen Sprachaufenthalt in Sevilla. Die Formulare bekommen Sie bei der Migros Klubschule oder über ihre Website. Ich drücke Ihnen die Daumen.
Nun wünsche ich Ihnen eine wunderbare Zeit mit vielen schönen Gesprächen. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie auch 27. September 2013 wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt.» Dann erzähle ich Ihnen «Das Fräulein vom Glasberg.» Auf Wiederhören!
[1] Meerjungfrau (die): eine weibliche Märchenfigur, die im Meer lebt und einen Fisch-Schwanz hat. Weil es in der Schweiz kein Meer gibt, sondern nur Seen, heisst sie hier Seejungfrau
[2] Muscheln (die): Tiere mit einer Schale, die im Wasser leben
[3] schwimmen: sich im Wasser bewegen
[4] Ufer (das): Rand eines Sees, eines Flusses oder eines Meeres
[5] Versteck (das): Ort, an dem man Dinge verbergen kann
[6] gebrochenes Herz (das): wenn jemand sehr traurig ist, weil eine Liebe kaputt gegangen ist
[7] scheinen: leuchten
[8] ertrinken: im Wasser untergehen und sterben
[9] retten: vor etwas bewahren, schützen
[10] Hexe (die): Frau, die zaubern kann, magische Kräfte hat
[11] hassen: das Gegenteil von lieben
[12] Schaum (der): Blasen aus Flüssigkeit und Luft