Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur 15. Sendung von «Andrea erzählt» vom 30. August 2013. Es freut mich sehr, sind Sie wieder dabei.
Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Sommer. Er ist nun fast zu Ende, aber das stört mich nicht. Ich finde, in dieser Jahreszeit ist das Licht sehr schön. Es gefällt mir besonders, wenn es durch farbige Fenster kommt. In Zürich gibt es eine Kirche, die berühmt ist für ihre Fenster. Sie haben sehr starke Farben und wurden von einem grossen Künstler gemacht: von Marc Chagall. Die Kirche heisst Fraumünster. Zu ihr gehört eine schöne Geschichte. Diese möchte Ihnen heute erzählen. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
Es war einmal eine Zeit, da gab es in der Schweiz noch Könige. In dieser Zeit lebten in der Nähe von Zürich zwei Prinzessinnen. Sie hiessen Hildegard und Berta. Ihr Urgrossvater [1] war der berühmte Kaiser Karl der Grosse. Weil es Hildegard und Berta zu laut war auf der Burg [2] ihres Vaters, lebten sie lieber auf der Burg Baldern. Das war eine stille Burg auf dem Albis, einem sehr langen Berg neben dem Zürichsee.
Hildegard und Berta beteten jeden Tag viele Stunden zu Gott. Und jeden Abend sagte Hildegard zu Berta: «Komm, kleine Schwester. Wir gehen in die Stadt hinunter und beten in der Kirche.» Aber der Weg in die Stadt war sehr weit. Die Schwestern mussten zuerst bis zum höchsten Spitz des Albis laufen, auf den Üetliberg. Von dort gingen sie durch den Wald hinunter und über Wiesen bis in die Stadt. Da liefen sie bis zu dem Ort, wo der Zürichsee in den Fluss Limmat fliesst [3].
Berta hatte immer ein wenig Angst vor dem Wald und sagte: «Bitte, Hildegard, können wir heute nicht auf der Burg bleiben? Die Stadt ist so weit weg und der Wald ist in der Nacht so dunkel. Und Vater wird sicher böse, wenn herausfindet, dass wir jeden Abend alleine nach Zürich hinunter gehen.» Aber Hildegard antwortete: «Du musst keine Angst haben, kleine Berta. Gott beschützt uns. Und ich erzähle dir dafür wieder die Geschichte von Felix und Regula.» Felix und Regula sind die beiden Heiligen der Stadt Zürich und die Kirche, in welche die beiden Schwestern jeden Abend gingen, war für sie gebaut worden.
Berta liebte Geschichten. Darum sagte sie jedes Mal: «Also gut. Aber morgen bleibe ich hier.» Das tat sie natürlich nicht. Und so zogen [4] die Schwestern jeden Abend ihren warmen Mäntel an und liefen los. Unterwegs erzählte Hildegard Berta die Geschichte: «Es war einmal ein Ritter. Er hiess Felix. Er war sehr schön und mutig. Felix hatte eine Schwester, sie hiess Regula. Die beiden waren römische [5] Christen. Das war damals sehr gefährlich. Denn der römische Kaiser Maximianus tötete alle seine Soldaten, die nicht an die römischen Götter glaubten. Zu diesen Soldaten gehörte auch Felix. Doch er und Regula hatten Glück. Sie konnten in die Schweizer Berge flüchten [6]. Dort lebten sie in einer Höhle und erzählten allen Menschen von ihrem Gott. Später gingen sie nach Zürich. Als der Kaiser davon hörte sagte er: «Ich will, dass alle Christen in Zürich getötet werden!»
Immer, wenn Hildegard das erzählte, hatte Berta grosse Angst. Sie hielt den Arm ihrer Schwester ganz fest und fragte: «Und dann? Wie ging es weiter?»
Und Hildegard sagte: «Die Soldaten fanden Felix und Regula und sagten: ‚Ihr müsst zu unseren römischen Göttern beten.’ Doch Felix antwortete: ‚Unsere Seele gehört dem Gott der Christen, der den Himmel und die Erde gemacht hat. Nur er ist unser Gott.’ Die Römer wurden sehr wütend und folterten [7] Felix und Regula. Aber es nützte nichts. Die beiden wollten nicht an die römischen Götter glauben. Darum schlugen die Soldaten Felix und Regula den Kopf ab! Doch die beiden nahmen ihre Köpfe in die Hände und liefen damit noch 40 Schritte.»
Berta zitterte dann und sagte: «Wie schlimm!» Und Hildegard sagte: «Ja, das ist es. Darum liess unser Urgrossvater 500 Jahre später für Felix und Regula die Grossmünster-Kirche in Zürich bauen. Und darum gehen wir jeden Abend in die Stadt und beten. Verstehst Du das?» Ja, Berta verstand das.
***
Eines Abends waren die beiden Schwestern wieder auf dem Weg in die Stadt. Hildegard fing gerade an, die Geschichte zu erzählen. Da sagte Berta: «Schau nur, da vorne ist ein Licht im Wald. Das macht mir Angst! Ich will wieder nach Hause.» Doch Hildegard sagte: «Nein, wir gehen und schauen, was dort ist.» Als die beiden Schwestern in den Wald kamen, sahen sie einen Hirsch [8]. Sein Fell war weiss und glänzend. Auf seinem Kopf war ein grosses Geweih [9] und darauf standen zwei Kerzen.
Hildegard ging langsam auf den Hirsch zu. Doch er ging weiter in den Wald hinein. Immer wieder drehte er sich um und schaute die Schwestern an. Da sagte Hildegard: «Schau Berta, er möchte, dass wir mit ihm kommen. Er zeigt uns den Weg.» Also gingen die Schwestern mit dem Hirsch mit.
Er ging immer weiter auf genau dem Weg, den die beiden Schwestern jeden Abend nahmen. Und er ging mit ihnen zu genau dem Ort, wo Felix und Regula begraben waren. Dort gingen Hildegard und Berta auf die Knie und beteten viele Stunden lang. Der Hirsch wartete die ganze Zeit auf sie. Als sie fertig waren, ging er mit ihnen durch den dunkeln Wald zurück zur Burg. Dann war er plötzlich weg.
Von nun an kam der Hirsch jeden Abend. Er wartete im Wald auf Hildegard und Berta und brachte sie an den gleichen Ort in der Stadt. Da sagte Hildegard zu Berta: «Der Hirsch will uns etwas sagen. Ich glaube, er kommt von Gott.»
Nach ein paar Tagen hörte der König, dass seine Töchter jeden Abend mit einem weissen Hirsch in die Stadt gingen. Eines Abends ging er zur Burg Baldern und ging heimlich hinter Hildegard und Berta her, bis in die Stadt. Als sie wieder zurück waren, sagte er: «Wieso tut ihr das? Das ist sehr gefährlich!» Doch Hildegard sagte: «Vater, der Hirsch kommt von Gott und er bringt uns an einen heiligen Ort. Ich glaube, wir sollten dort ein Kloster [10] bauen und dort leben!» Der König wollte nichts hören und sagte: «Nein. Das glaube ich nicht. Ich baue euch ein Kloster, wenn ihr eines wollt. Aber nicht in der Stadt »
Da betete Hildegard zu Gott und sagte: «Bitte, schick noch ein Zeichen, damit unser Vater uns glaubt.»
Da liess Gott ein grünes Seil vom Himmel herunter, genau dort, wo der Hirsch die beiden Schwestern immer hingebracht hatte. Jetzt glaubte der König seinen Töchtern und sagte: «Wenn Gott das so will, dann werde ich euch hier ein Kloster bauen. Es soll Fraumünster heissen. Du, Hildegard wirst die erste Äbtissin [11] sein.»
So wurde Hildegard im Jahre 853 die Leiterin des Klosters Fraumünster, in dem schon bald auch viele andere Frauen lebten.
***
Eigentlich habe ich Ihnen heute gleich zwei Zürcher Geschichten erzählt und sie ein kleines bisschen verändert. Wo Felix und Regula heute begraben sind, weiss niemand sicher. Und das Kloster beim Fraumünster gibt es auch nicht mehr. Aber dafür steht dort eine schöne Kirche. Daneben gibt es noch den kleinen Kloster-Garten mit einem Brunnen. An den Wänden hat es Bilder von Hildegard, Berta und dem Hirsch.
Wenn Sie einmal in Zürich sind und Zeit haben, können Sie selbst den Weg von Hildegard und Berta gehen. Die Burg Baldern gibt es zwar auch nicht mehr. Aber von der «Felsenegg» bei Adliswil können Sie über den «Üetliberg» bis in die Stadt hinunterwandern [12]. Dort nehmen Sie am besten das Tram [13] bis zum Bürkliplatz beim See und gehen dann zu Fuss bis zum Fraumünster. Der ganze Weg dauert etwas länger, als drei Stunden. Fall Sie nicht so weit gehen möchten, können Sie auch einfach die schöne Kirche mit ihren Fenstern ansehen und danach in den kleinen Kloster-Garten gehen.
So, und nun wünsche ich Ihnen ein schönes Ende des Sommers und viel Farbe im Alltag. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie auch am 13. September wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt». Dann werde ich Ihnen die «Geschichte von der kleinen Meerjungfrau» erzählen, welche die Sprache verloren hat. Der Grund: Am 26. September ist der «Day of Languagues» und da werden auch wir uns mit der Sprache beschäftigen. Auf Wiederhören!
[1] Urgrossvater (der): Vater des Grossvaters
[2] Burg (die): Festung, Schloss
[3] fliessen: so bewegen sich Flüssigkeiten, wie zum Beispiel Wasser
[4] anziehen: in Kleider hineinschlüpfen, zum Beispiel in einen Mantel oder in eine Hose
[5] römisch: zu Rom, den Römern gehörend
[6] flüchten: von etwas Gefährlichem weggehen, zu Beispiel von einem Feuer oder einem bösen Menschen
[7] foltern: jemanden stark quälen, ihm Schmerzen machen
[8] Hirsch: ein grosses, männliches Tier, das im Wald lebt (sein Weibchen heisst Hirsch-Kuh)
[9] Geweih (das): Stangen aus Knochen auf dem Kopf von Hirschen, sie sehen aus wie ein Baum
[10] Kloster (das): Ort, an dem Menschen leben, die ihr ganzes Leben Gott geben, man nennt sie Nonnen (Frauen) und Mönche (Männer)
[11] Äbtissin (die): Leiterin eines Klosters
[12] wandern: weit gehen
[13] Es ist nicht nötig, dieses Wort zu erklären ;-)