Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung «Andrea erzählt» vom 27. September 2013. Es freut mich sehr, sind Sie wieder dabei.
Jetzt geht es plötzlich schnell: Die Tage werden kürzer und kälter und die Tische sind voll mit Früchten und jungem Wein. In der Geschichte, die ich Ihnen heute erzählen möchte, ist Wein auch sehr wichtig. Zusammen mit ein paar anderen Dingen hilft er dabei, eine schöne Prinzessin zu retten. Die Geschichte heisst «das Fräulein vom Glasberg [1]» und kommt aus dem Bündnerland. Das ist ganz im Osten der Schweiz.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen
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Es waren einmal ein König und eine Königin. Sie waren sehr reich, aber auch sehr unglücklich. Ihre Tochter Giugliauna war nämlich vor vier Jahren in den Wald gegangen und nie mehr zurückgekommen. Der König und die Königin hatten auch noch zwei Söhne. Sie hiessen Prinz Ferdinand und Prinz Ludovic.
Die Menschen im Land sagten: «Prinzessin Giugliauna ist sicher verzaubert worden. Seit sie weg ist, steht nämlich eine Säule [2] aus Salz vor dem Schloss.»
Als der Tag kam, an dem Prinzessin Giugliauna seit genau vier Jahren weg war, weinten der König, die Königin, die Prinzen und alle Menschen im Land. Besonders Prinz Ferdinand war sehr aufgeregt. Sein Bruder, Prinz Ludovic, fragte ihn: «Lieber Ferdinand, was ist los mit dir? Warum bist du so aufgeregt?» Prinz Ferdinand antwortete: «Lieber Bruder, ich hatte heute Nacht einen Traum. Wir beide gingen zusammen durch einen dunkeln Wald. Am Abend kamen wir zu einem kleinen Haus. Wir gingen hinein und dort hörten wir, wie zwei Frauen miteinander über unsere Schwester sprachen. Ich erinnere [3] mich genau, wo das Haus im Traum war. Ich möchte es suchen. Kommst du mit?» Prinz Ludovic antwortete: «Ja. Aber Vater und Mutter dürfen es nicht wissen. Sonst lassen sie uns nicht gehen.» Also gingen Prinz Ferdinand und Prinz Ludovic schnell und leise zu ihren Pferden und ritten [4] weg.
Am Abend fragte der König: «Warum sind unsere Söhne nicht hier? Wo sind sie?» Sofort suchten alle Diener nach Prinz Ferdinand und Prinz Ludovic. Aber sie fanden sie nicht. Da sah ein Diener, dass vor dem Schloss plötzlich drei Säulen aus Salz standen. Die Königin weinte und sagte: «Oh nein, sie wurden auch verzaubert! Wir Armen [5]! Jetzt haben wir gar keine Kinder mehr!»
Der König sagte zu den Menschen in seinem Land: «Wer meine Kinder findet, bekommt die Hälfte meines Geldes und ein eigenes Schloss.» Da gingen alle und suchten die beiden Prinzen und ihre Schwester. Aber niemand fand sie.
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Zur gleichen Zeit kamen die zwei Prinzen in einen grossen Wald. Dort sahen sie ein kleines Haus. Prinz Ferdinand rief: «Schau, da ist das Haus aus meinem Traum. Komm schnell!» die beiden Prinzen gingen ins Haus. Sie sahen einen Tisch. Darauf hatte es Würste, Fleisch, Kuchen und Wein.
Es hatte auch zwei Teller, zwei Gläser, zwei Gabeln [6] und zwei Messer [7]. Prinz Ferdinand sagte: «Das sieht aus, als wäre es für uns. Komm Bruder, wir essen!» Die Brüder sassen an den Tisch und assen und tranken.
Nach dem Essen gingen die beiden Prinzen im Haus herum. Sie fanden ein Zimmer mit zwei Betten. Sie legten sich hinein und schliefen sofort ein. Aber genau um Mitternacht [8] erwachten sie und hörten eine Stimme. Sie sagte: «Schwester, Schwester, was gibt es neues heute Abend? Warum sind der schöne Prinz Ferdinand und der schöne Prinz Ludovic hier?» Eine andere Stimme sagte: «Sie wollen ihre Schwester auf dem Glasberg suchen. Dafür brauchen sie eine Flasche Wein, Fleisch und einen Sack mit Salz. Wenn sie zu dem Schloss auf dem Glasberg kommen, werden sie drei Hunde sehen. Sie müssen ihnen das Fleisch geben.
Im Wein hat es ein Schlafmittel. Sie müssen ihn dem Wächter geben. Nur so können sie in das Schloss hinein und Prinzessin Giugliauna suchen. Wenn sie dann wieder aus dem Schloss herauskommen, sehen sie bald eine Brücke über einem Fluss. Dort müssen sie den Sack mit dem Salz ins Wasser werfen. Denn im Wasser lebt der Drache, der die Prinzessin Giugliauna verzaubert hat. Nur wenn Prinz Ferdinand und Prinz Ludovic alles so machen, wie ich es gesagt habe, wird alles gut gehen.»
Jetzt war es wieder ganz still im Haus.
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Château Coucy ccAm nächsten Morgen fanden Prinz Ferdinand und Prinz Ludovic neben ihren Betten alle Dinge, die sie brauchten: Fleisch, eine Flasche Wein und einen Sack mit Salz. Sie nahmen sie mit und ritten den ganzen Tag ohne Pause. Am Abend kamen sie zu einer Brücke. Von dort sahen sie einen Berg, der wie ein Diamant glänzte. Prinz Ferdinand rief: «Schau, da ist der Glasberg.» Bald waren die Prinzen unten am Berg. Darauf stand ein wunderschönes Schloss. Es war auch aus Glas. Die Prinzen banden [9] ihre Pferde an einen Baum und gingen zum Schloss hinauf.
Da kamen drei Hunde mit grossen Zähnen und wollen die Prinzen beissen. Schnell warfen die beiden das Fleisch zu den Hunden. Diese liessen die Prinzen sofort in Ruhe und kämpften miteinander um das Fleisch.
Nun kam ein grosser Mann aus dem Schloss. Er hatte zwei Schwerter [10] und sah sehr böse aus. Es war der Wächter [11]. Er rief: «He, ihr da! Was wollt ihr?» Prinz Ferdinand antwortete sehr freundlich: «Guten Tag. Wir haben gehört, dass Sie gerne Wein trinken. Deshalb haben wir Ihnen eine ganz besonders gute Flasche mitgebracht.» Der Wächter freute sich sehr und trank sie sofort leer. Schon zwei Minuten später schlief er tief und fest.
Die Brüder gingen an dem Wächter vorbei in das Schloss. Sie suchten ihre Schwestern viele Stunden lang. Endlich fanden sie Prinzessin Giugliauna. Sie war oben im Turm in einem kleinen Zimmer. Sie rief: «Ihr liebsten Brüder! Wie schön, dass ihr mich gefunden habt.» Die drei umarmten sich lange. Dann fragte Prinzessin Giugliauna: «Aber wie kommen wir hier wieder weg? Der Wächter ist sehr böse, er wird uns töten.» Prinz Ferdinand antwortete: «Keine Angst! Der schläft für viele Tage. Wir haben ihm Wein mit einem Schlafmittel gegeben.»
Prinzessin Giugliauna dankte dem lieben Gott und brachte ihre Brüder in den Stall. Dort stand ihr Pferd. Es hatte eine Decke aus Gold auf dem Rücken und freute sich sehr, Prinzessin Giugliauna endlich wieder zu sehen. Schnell band sie es los und die drei gingen mit dem Pferd aus dem Schloss hinaus.
Sie kamen zu der Brücke, bei der die beiden Pferde der Prinzen warteten. Doch als sie zu ihnen hinüber gehen wollten, hatte Prinzessin Giugliaunas Pferd grosse Angst. Es wollte nicht weiter gehen. Prinz Ferdinand sagte: «Im Wasser ist der Drache, der unsere Schwester verzaubert hat. Jetzt müssen wir den Sack mit dem Salz ins Wasser werfen!» Der Sack war sehr schwer und fiel laut von der Brücke ins Wasser. Plötzlich fing der Boden an zu schütteln und das Schloss aus Glas zerbrach [12]. Der Wächter und die Hunde darin waren sofort tot. Auch der Drache, der sie verzaubert hatte, schwamm tot auf dem Wasser unter der Brücke.
Im gleichen Moment zerbrachen die drei Säulen aus Salz vor dem Schloss des Königs. Der König sah das und rief: «Königin, schau nur, was passiert ist! Die Säulen sind zerbrochen. Das hiesst, dass unsere Kinder noch leben!»
Dann sahen sie Prinz Ferdinand, Prinz Ludovic und Prinzessin Giugliauna auf ihren Pferden. Sie winkten. Alle Menschen im Land kamen und freuten sich mit dem König und der Königin. Es gab ein grosses Fest. Es dauerte acht Tage lang. Endlich hatten alle wieder ein schönes, glückliches Leben. Und wenn sie nicht gestorben sind, so haben sie das noch heute.
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Der Wein hat also geholfen, einer Prinzessin das Leben zu retten. Und natürlich waren auch das Fleisch und das Salz wichtig. Aber am meisten haben der Mut und die Liebe der beiden Brüder von Prinzessin Giugliauna genützt. Zusammen gibt das schon fast einen schönen Herbstabend: Essen, Trinken, Familie und Liebe. Genau das wünsche ich Ihnen jetzt von Herzen!
Und natürlich würde es mich sehr freuen, wenn Sie auch am 11. Oktober wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt» Dann werde ich Ihnen «die Geschichte von den drei goldenen Äpfeln» erzählen.
Übrigens: Bald gibt es eine neue interaktive Funktion auf all unseren Podclub-Websites, mit der Sie noch angenehmer lernen können. Bald erfahren Sie mehr.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Auf Wiederhören!
[1] Glasberg (der): ein Berg aus Glas
[2] Säule (die): ein Pfeiler, ein hohes, schmales Gebilde, das meist etwas abstützt
[3] erinnern: etwas noch wissen, was man mal gesehen oder gehört hat, etwas im Gedächtnis haben
[4] reiten: auf einem Pferd sitzen
[5] Arme (die): Menschen, die von etwas (meist Geld) sehr wenig haben und die einem Leid tun
[6] Gabel (die): Besteck, Ess-Werkzeug mit mehreren Spitzen
[7] Messer (das): Besteck, Ess-Werkzeug zum Schneiden, auch eine Waffe
[8] Mitternacht: um zwölf Uhr in der Nacht, wenn ein neuer Tag anfängt
[9] anbinden: mit einem Seil oder einer Schnur anmachen, befestigen
[10] Schwert (das): grosses Messer, alte Waffe
[11] Wächter (der): jemand, der auf etwas aufpasst, etwas bewacht
[12] zerbrechen: kaputtgehen, in viele kleine Teile auseinander fallen