Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur 14. Sendung von «Andrea erzählt» vom 19. Juli 2013. Es freut mich sehr, sind Sie wieder dabei.
Bald ist der 1. August, da feiert die Schweiz Geburtstag. Die heutige Schweiz gibt es erst seit 1848. Aber die so genannte Ur-Schweiz wurde schon 1291 gegründet. Aus dieser Zeit kommt auch die Geschichte von Wilhelm Tell, die sehr berühmt ist. Der deutsche Schriftsteller Friedrich Schiller hat 1804 sogar ein Theaterstück darüber geschrieben. Trotzdem kennen sie viele Leute nicht genau. Darum möchte ich sie Ihnen heute erzählen. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
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Anfangs des 13. Jahrhunderts begannen die Menschen, über den Gotthardpass in den Süden zu reisen. Dabei kamen sie auch am Vierwaldstättersee vorbei. Er ist mitten in der Schweiz. Dort sind auch die drei Kantone [1] Uri, Schwyz und Unterwalden, das man heute Nidwalden nennt. Weil nun so viele Reisende hier her kamen, wurde das Land plötzlich interessant. Darum wollten die Habsburger [2] hier die Macht haben und schickten Landvögte. Das waren Männer, die für die Habsburger regierten und von den Menschen Steuern [3] nahmen.
Das wollten die Männer von Uri, Schwyz und Unterwalden natürlich nicht. Darum trafen sie sich 1291 auf einer Wiese auf einem Felsen über dem Vierwaldstättersee. Sie hiess Rütli und es gibt sie heute noch. Ihre drei Führer hiessen Werner Stauffacher, Arnold Melchtal und Walter Fürst. Sie sagten: «Wir werden einander immer helfen gegen die fremde Macht der Habsburger und gegen ihre Vögte. Wir wollen frei sein!» Dieses Versprechen nannten sie den Rütlischwur und sich selber Eidgenossen. Damit hatten sie die Ur-Schweiz erfunden.
In dieser Zeit lebte auch ein Bauer in einem Tal in der Nähe des Vierwaldstättersees. Er hiess Wilhelm Tell. Er hatte ein kleines Stück Land und arbeitete hart. Wilhelm Tell war arm, aber seine Familie hatte immer genug zu essen auf dem Teller. Er ging oft auf die Jagd mit seiner Armbrust. Das ist eine Art Pfeilbogen, mit dem man weit und genau schiessen kann. Wilhelm Tell war der beste Armbrust-Schütze [4] im ganzen Kanton Uri.
Er war ein glücklicher Mann. Er liebte seine Frau Hedwig sehr und auch seine beiden Söhne Walter und Wilhelm. Einmal im Monat ging er ins Tal hinunter. In der kleinen Stadt Altdorf kaufte er alles, was seine Familie brauchte. Eines Tages nahm er seinen Sohn Walter mit.
Als sie in Altdorf ankamen, waren die Menschen ganz aufgeregt und sagten: «Gessler, unser Landvogt, wird immer brutaler und er will immer mehr Geld von uns.» Als Wilhelm Tell und Walter auf den Dorfplatz kamen, waren dort viele Soldaten des Landvogtes. In der Mitte des Dorfplatzes war ein Stock aufgestellt. Darauf war ein Hut.
Walter fragte: «Vater, was ist das?» Da sagte ein Mann, der neben den beiden stand: «Das ist der Hut des Landvogtes Gessler. Jeder, der daran vorbei geht, muss ihn grüssen, als sei der Hut der Landvogt selber.»
Wilhelm Tell rief: «Das ist dumm!» Dann ging er an dem Stock mit dem Hut vorbei, ohne ihn zu grüssen. Sofort kamen die Soldaten. Sie standen um Wilhelm Tell herum und sagten: «He du armer Bauer, grüsse sofort den Landvogt Gessler.» Doch Wilhelm Tell antwortete: «Ich sehe den Landvogt nicht. Ich sehe nur einen Hut auf einem Stock. Ich bin doch nicht so dumm und grüsse einen Hut.»
Die Soldaten wurden wütend und packen Wilhelm Tell am Arm. Er blieb ruhig. Nun kamen alle Menschen auf dem Dorfplatz näher, auch der kleine Walter. Die Soldaten riefen: «Holt schnell den Landvogt Gessler und sagt ihm, dass ein armer Bauer ihn nicht gegrüsst hat.» Als er kam, sagte er: «Was höre ich da? Du hast mich nicht gegrüsst. Du folgst dem Gesetz nicht.»
Wilhelm Tell sagte ganz ruhig: «Ich grüsse keine Hüte. Das ist dumm.» Jetzt wurde der Landvogt Gessler sehr wütend und sagte: «Ich werde dich bestrafen. Verhaftet [5] ihn!» Da sah der Landvogt Gessler Walter und sagte zu Wilhelm Tell: «Ich habe eine gute Idee, wie ich dich bestrafen kann. Alle sagen, du seist ein guter Armbrust-Schütze. Jetzt kannst Du mir zeigen, ob das stimmt.»
Der Landvogt Gessler nahm einen schönen roten Apfel aus seiner Tasche und sagte zu Wilhelm Tell: «Du musst nur diesen Apfel treffen.» Wilhelm Tell antwortete: «Das ist ganz einfach.» Aber der Landvogt Gessler lachte nur und sagte: «Gut. Walter, stelle dich unter den Baum dort.» Walter ging zu dem Baum, der 80 Meter weit stand. Nun stellte der Landvogt Gessler den Apfel auf seinen Kopf und sagte zu Wilhelm Tell: «Dieser Apfel auf dem Kopf deines Sohn Walter ist dein Ziel. Wenn du ihn triffst, bist du frei. Wenn nicht, stirbt dein Sohn.»
Wilhelm Tell nahm zwei Pfeile aus der Tasche und legt sie neben sich. Nun nahm er den ersten und legte ihn in die Armbrust. Er zielte damit auf den Apfel auf Walters Kopf. Zum ersten Mal in seinem Leben zitterten seine Hände. Sie zitterten so fest, dass er die Armbrust nochmals herunternehmen musste und eine Pause machen. Dann nahm er sie wieder hoch und schoss. Es war ganz still auf dem Dorfplatz. Man hörte nur, wie ein Pfeil durch die Luft flog. Und wie er den Apfel traf und ihn in der Mitte auseinanderbrach. Alle Menschen klatschen in die Hände, lachten und riefen: «Wilhelm Tell, du bist der Beste!»
Wilhelm Tell aber packte schnell den zweiten Pfeil wieder in seine Tasche. Doch der Landvogt Gessler sah das und sagte: «Bravo, Wilhelm Tell. Du bist frei. Aber ich habe noch eine Frage: Wofür hast du den zweiten Pfeil bereit gelegt?» Wilhelm Tell antwortete: «Wenn ich meinen Sohn Walter mit dem ersten Pfeil getötet hätte, dann wäre der zweite für dich gewesen.» Der Landvogt Gessler wurde so böse, dass er den Soldaten sofort befahl, Wilhelm Tell wieder zu packen und sagte: «In meiner Burg kannst du über deine freche [6] Antwort nachdenken, bis die Haut auf deinen Knochen alt wird.»
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Der Landvogt Gessler hatte Angst vor den Menschen in Altdorf. Sie hassten ihn und sie liebten Wilhelm Tell. Darum wollte er so schnell wie möglich mit seinem Schiff in seine Burg zurück fahren. Doch da kam ein Sturm. Die Soldaten sagten: «Herr Landvogt Gessler, wir müssen warten. Es ist zu gefährlich auf dem See.» Doch er hörte nicht auf sie und sie fuhren mit dem Schiff auf den Vierwaldstättersee hinaus.
Der Sturm wurde immer stärker. Alle Männer riefen: «Bitte, Herr Landvogt Gessler, wir müssen an Land, sonst sterben wir alle!» Aber er antwortete: «Nein! Wir fahren nicht zurück, wir bleiben auf dem See!»
Dann rief er zu Wilhelm Tell: «Du bist doch stark. Nimm das Ruder [7] und rette uns!»
Wilhelm Tell nickte und nahm sofort das Ruder und sagte: «Wir fahren zu der Felsplatte [8] am Axen [9]. Nur so können wir überleben.» Die Männer taten, was Wilhelm Tell ihnen gesagt hatte und sie schafften es an Land.
Aber Wilhelm Tell nahm schnell seine Armbrust und sprang aus dem Schiff auf die Felsplatte. Dabei stiess er das Schiff mit dem Landvogt Gessler auf den See zurück. Er wusste, dass dieser ihn töten lassen würde, wenn er überlebte. Darum ging er schnell über die Berge zu der Burg des Landvogts Gessler. Dort in der Nähe versteckte er sich in der hohlen Gasse, das war der Name des Weges, und wartete. Er sagte: «Durch diese hohle Gasse muss er kommen.»
Plötzlich kamen der Landvogt und seine Soldaten auf ihren Pferden aus dem Wald und ritten in die hohle Gasse. Wilhelm Tell sagte leise zu sich selbst: «Du hast also den Sturm überlebt. Aber mich wirst du nicht überleben.» Dann nahm er den zweiten Pfeil hervor und tötete damit den bösen Landvogt Gessler.
Bald wussten alle Menschen am Vierwaldstättersee, was Wilhelm Tell getan hatte. Sie waren sehr glücklich und riefen: «Wilhelm Tell ist ein Held. Er hat uns befreit. Nie mehr lassen wir uns von fremden Vögten unsere Freiheit wegnehmen!» Sie waren jetzt bereit, für die Eidgenossenschaft zu kämpfen, zum Beispiel in der Schlacht bei Morgarten. Dort besiegten sie die Habsburger.
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Die Geschichte von Wilhelm Tell gibt es in vielen Formen und sie wird in vielen Ländern erzählt. Aber ich finde es gar nicht so wichtig, ob sie wirklich wahr ist und ob sie in der Schweiz passiert ist oder nicht. Wichtiger finde ich, dass es Menschen gibt, die für die Freiheit kämpfen.
Vielleicht denken Sie am ersten August an sie. Vielleicht möchten Sie auch einfach nur ein schönes Feuerwerk sehen. Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen einen schönen Sommer und freue mich, wenn Sie auch am 30. August wieder auf www.podclub.ch dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt.» Dann erzähle ich Ihnen «die Geschichte vom Fraumünster». Auf Wiederhören!
[1] Kanton (der): Teil-Staat der Schweiz, die Kantone sind auch heute noch sehr selbständig
[2] Habsburger (die): österreichische Herrscherfamilie
[3] Steuer (die): Abgabe an den Staat , Taxen
[4] Schütze (der): jemand, der mit einer Schusswaffe schiesst, zum Beispiel mit einer Pistole oder einer Armbrust
[5] verhaften: gefangen nehmen (durch die Polizei oder das Militär)
[6] frech: respektlos unhöflich, mutig
[7] Ruder (das): ein Stück Holz, das vorne flach ist und hinten wie ein Stock, mit dem man ein Schiff fahren kann
[8] Felsplatte (die): eine flacher, sehr grosser Stein (Fels)
[9] Axen (der): eine Felswand am Vierwaldstättersee