Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur 10. Sendung von "Andrea erzählt" vom 24. Mai 2013. Es freut mich sehr, sind Sie wieder dabei.
Kennen Sie Schlangen-Brot? Das ist ein Brot, bei dem man den Teig um einen Ast dreht. Dann bäckt man ihn draussen über einem Feuer. Schlangen-Brot ist eine typische Sommerspezialität und sehr gut. Vor allem Kinder lieben es. Aber wer im Sommer im Wald Brot backen will, braucht Mehl. Und wer Mehl will, braucht einen Müller [1]. Darum möchte ich Ihnen hier eine Geschichte über einen Müller erzählen, der nicht nur feines Mehl machte, sondern auch ein grosses Herz hatte. Zum Schluss der Geschichte gebe ich Ihnen dann das Rezept für Schlangenbrot. Und jetzt wünsche ich Ihnen viel Spass bei der Geschichte vom Vogel, der die Wahrheit [2] sang. Sie kommt aus dem Graubünden, das ist im Osten der Schweiz.
Es war einmal ein armer Müller. Eines Tages stand seine Mühle still [3]. Als er schaute, was los war, sah er eine Kiste. In der Kiste waren drei kleine Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Sie hatten alle einen goldenen Stern auf der Stirn [4]. Der Müller rief seiner Frau: "Frau, komm schnell und schau, was ich gefunden habe!" Die Müllerin kam und als sie die Kinder sah, sagte sie: "Oh, wie traurig. Lieber Mann, können wir die armen Kinder nicht behalten?" Weil sie keine eigenen Kinder hatten, war der Müller einverstanden und die drei Kinder blieben in der Mühle. Die Müllerin nannte sie Hans, Heinz und Heidi.
Als die drei Kinder gross wurden, wollte die Müllerin ihnen erzählen, was passiert war: "Meine lieben Kinder, wir sind nicht eure richtigen Eltern. Wir haben euch hier der Mühle gefunden, als ihr noch ganz klein wart." Hans fragte: "Aber wer sind dann unsere richtigen Eltern?" Die Müllerin sagte: "Das wissen wir leider nicht. Aber im Schloss auf dem Berg neben dem grossen, kalten See gibt es einen Vogel, der immer die Wahrheit singt. Vielleicht weiss er etwas." Am nächsten Tag ritt Hans auf dem schwarzen Pferd des Müllers weg. Als er viele Monate lang nicht mehr nach Hause kam, weinten der Müller und seine Frau sehr.
Nach einem Jahr sagte Heinz zum Müller und seiner Frau: "Ich werde gehen und den Vogel suchen. Vielleicht weiss er, wo mein Bruder ist." Am nächsten Tag ritt Heinz auf dem braunen Pferd des Müllers weg. Als er viele Monate lang nicht mehr nach Hause kam, weinten der Müller und seine Frau sehr.
Nach einem Jahr sagte die kleine Heidi zum Müller und seiner Frau: "Jetzt werde ich gehen und den Vogel suchen. Vielleicht weiss er, wo meine Brüder sind." Da sagte die Müllerin: "Bitte, mein liebes Kind, geh nicht fort. Ich habe doch nur noch dich." Doch Heidi antwortete: "Du musst keine Angst haben, wir kommen zurück. Aber ich muss es einfach probieren [5]." Am nächsten Tag ritt Heidi auf dem weissen Pferd des Müllers weg.
Sie ritt über schöne Wiesen voller Blumen bis zu einem dunklen Wald. Dort sah sie eine alte Frau. Die sagte: "Schönes Mädchen, ich weiss was du suchst. Du suchst deine Brüder. Sie sind zum Schloss gegangen, in dem der Vogel wohnt, der immer die Wahrheit singt." Heidi freute sich und fragte: "Kannst du mir sagen, wo das Schloss ist, gute Frau?" Die Frau antwortete: "Ach, liebes Mädchen. Das kann ich schon, aber es ist gefährlich. Das Schloss steht auf dem Berg neben dem grossen, kalten See. Aber vor dir sind schon viele Tausend Männer und Frauen dorthin gegangen und keiner ist wieder zurückgekommen.
Sie wurden alle in Steine verzaubert. Aber, wenn du sie retten willst, dann sage ich dir, was du tun musst: Du darfst dich niemals umdrehen, auch wenn jemand dich ruft. Sonst wirst du selbst in einen Stein verzaubert."
***
Heidi bedankte sich und ritt weiter. Bald sah sie den grossen, kalten See und den Berg mit dem Schloss. Sie liess das Pferd bei einem Baum und ging den Berg hinauf. Da hörte sie Stimmen, die laut riefen: "Heidi, schau mich an! Dreh dich um!" Und sie hörte auch leise Stimmen, die sagten: "Liebe, liebe Hedi, komm zu mir, du schönes Mädchen." Aber Heidi drehte sich nicht um und lief immer weiter, bis sie zum Tor des Schlosses kam. Dort stand ein Riese [6] mit einem Baum in der Hand. Er machte: "Uaaahhhh" und wollte Heidi schlagen. Doch sie rannte schnell zwischen seinen Beinen hindurch ins Schloss.
Dort war es dunkel und sehr schön, aber auch ganz leer. Heidi lief immer weiter, bis sie in einen grossen Saal kam. An den Wänden hingen tausend goldene Käfige [7]. In jedem Käfig war ein Vogel mit Federn in allen Farben der Welt. Und jeder Vogel rief: "Hör auf mich, Mädchen. Ich bin der einzige Vogel, der die Wahrheit singt."
Ganz hinten in einer Ecke sass ein kleines graues Vöglein in einem Käfig aus Holz. Es war ganz still. "Oh du kleiner Vogel, bitte hilf mir. Welcher dieser Vögel singt die Wahrheit?" Der kleine Vogel sang ganz fein: "Das bin ich, du schönes Mädchen. Bring mich in den Garten. Dann zeige ich dir, wie du den Zauber beenden kannst."
Im Garten sagte der Vogel: "Nimm diesen Ast dort und berühre damit alle Steine, die du siehst." Heidi nahm den Ast - und wirklich: Aus jedem Stein wurde ein Mensch, bis der ganze Garten voll war. Da sah Heidi auch Hans und Heinz. Alle drei lachten und weinten zur gleichen Zeit. "Pssst, ihr drei", hörte man plötzlich eine Stimme auf einem Baum. Dort sass das kleine, graue Vöglein und sagte: "Ich erzähle euch jetzt, wer ihr seid: Ihr seid Königskinder. Als ihr zur Welt kamt, war euer Vater im Krieg. Nachdem er zurück kam, sagte ihm euer Onkel, die Königin habe ihm keine Kinder geboren [8], sondern drei Katzen. Da sperrte der König seine Frau ins Gefängnis [9] und gab seine Krone traurig eurem Onkel."
Heidi und ihre Brüder wurden sehr wütend und riefen: "Wir werden den Onkel töten." Alle Menschen im Schlossgarten kamen mit und auch der Riese wollte helfen. Sie gingen zusammen den Berg hinunter und liefen drei Tage, bis sie zum Schloss des bösen Onkels kamen. Der sass auf seinem Thron [10] und daneben sass ganz traurig der Vater der drei Kinder. Sie riefen "Du bist unser Vater und wir sind deine Kinder! Der Onkel hat gelogen. Mutter hat keine Katzen geboren, sondern uns."
Da sah der alte König die goldenen Sterne auf ihrer Stirn und wusste, dass sie die Wahrheit sagten. Er nahm seine Kinder in den Arm und rief: "Endlich kann ich wieder glücklich sein. Kommt schnell, wir holen eure Mutter aus dem Gefängnis." Dann nahm er dem bösen Onkel die Krone wieder weg und liess ihn töten.
Jetzt sagten Hans, Heinz, und Heidi zu ihren Eltern: "Bald sind wir alle froh. Aber zuerst müssen wir noch den Müller und seine Frau holen. Sie waren so gut zu uns." Als sie hörten, dass Hans, Heinz und Heidi noch lebten, waren der Müller und seine Frau die glücklichsten Menschen auf der ganzen Welt. Und als sie auf das Schloss kamen, baute der König ihnen die schönste Mühle, die je ein Müller hatte. Und der Müller machte damit das feinste Mehl, das je ein Mensch gegessen hat.
SchlangenbrotIch würde sehr gern vom Mehl des glücklichen Müllers probieren. Es gäbe sicher ein wunderbares Schlangen-Brot. Aber natürlich schmeckt Schlangen-Brot auch mit normalem Mehl. Darum verrate ich Ihnen hier noch das Rezept (für acht Personen):
Mischen Sie 10 Gramm Hefe [11] mit 4 Deziliter Wasser. Geben Sie die Mischung zu 600 Gramm Mehl und 1 1/2 Teelöffel Salz dazu. Kneten Sie daraus einen Teig. Jetzt warten Sie, bis der Teig doppelt so gross geworden ist und teilen ihn in acht Teile. Dann drehen Sie die Teile und um acht Äste. Nun kann jeder sein Brot etwa 15 bis 20 Minuten über einem Feuer backen. Guten Appetit!
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie auch am 7. Juni wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst "Andrea erzählt" Dann werde ich Ihnen "die Geschichte vom Stier12 von Uri" erzählen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Auf Wiederhören!
1 Müller (der): jemand, der in der Mühle aus Korn Mehl macht
2 Wahrheit (die): etwas, das stimmt, nicht falsch ist
3 still stehen: sich nicht mehr bewegen
4 Stirn (die): oberster Teil des Gesichtes über den Augen
5 probieren: versuchen
6 Riese (der): sehr grosser Mensch aus dem Märchen
7 Käfig (der): Häuschen für Vögel mit Gitterstäben
8 gebären: ein Baby bekommen
9 Gefängnis (das): Ort, an dem Menschen gefangen werden
10 Thron (der ): spezieller Sessel für einen König
11 Hefe (die): ein Pilz, der dazu benutzt wird, dass Brot luftig wird.
12 Stier (der): männliche Kuh