Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur 6. Sendung von "Andrea erzählt" vom 28. März 2013. Es freut mich sehr, sind Sie wieder dabei.
In drei Tagen ist Ostern. Ich weiss nicht, ob und wie Sie Ostern feiern. Als ich ein kleines Mädchen war, habe ich geglaubt, dass ein Hase für mich ein Nestchen [1] mit Zuckereiern und einem kleinen Geschenk versteckt. Ich wollte ihn unbedingt sehen. Darum stand ich jeweils ganz früh auf. Aber ich habe es nie geschafft [2]. Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, dass es ihn nicht gibt. Ich glaubte einfach, dass er sich unsichtbar [3] machen kann.
Unsichtbar sein, wäre doch etwas Wunderbares! Man könnte gratis ins Kino gehen oder in den Zoo oder heimlich ein bisschen lauschen [4], was andere Menschen miteinander reden. Das wäre doch spannend, oder? Meine Kinder träumen ebenfalls von einem Mantel, der einen unsichtbar machen kann, wie bei Harry Potter. Aber auch in der Schweiz gibt es Geschichten über Kleider, die unsichtbar machen. Darum erzähle ich Ihnen heute "die Geschichte von der Tarnkappe [5]". Sie kommt aus dem Senseland. Das ist eine sehr schöne Gegend in der Westschweiz.
Es war einmal ein kleiner Junge. Er hiess Wendelin und war Ziegenhirte [6], wie auch sein Vater. Wendelin lebte mit seiner Familie in einem Dorf unten an einem Berg. Einmal am Mittag rannte er von der Weide [7] nach Hause. Er hatte seinem Vater wie immer das Mittagessen gebracht und sang ein fröhliches Lied. Plötzlich blieb er stehen. Vor ihm sass ein Zwerg am Rand des Weges. Er lächelte freundlich und sagte: "Hallo Kleiner, wie heisst Du? Und wo kommst Du her?". Der Junge antwortete: "Ich bin Wendelin der Ziegenhirte. Ich war bei meinem Vater auf der Weide und habe ihm etwas zu Essen gebracht. Nun gehe ich nach Hause." Der Zwerg wollte noch mehr wissen. Er fragte: "Wo wohnst du denn?" - "Ich lebe im Dorf unten am Berg", antwortete Wendelin. "Und wo wohnst Du?" Das Zwerglein lächelte und sagte: "Ich lebe in diesem Berg hier. Möchtest mal mit mir mitkommen?"
Wendelin wurde neugierig und sagte: "Oh ja! Ich komme gern." Der Zwerg nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm in den Wald. Er führte ihn immer tiefer hinein, zwischen Büschen [8] und Felsen hindurch. Als sie zu einem Felsspalt [9] im Berg kamen, krochen [10] sie hindurch.
Sie kamen in einen grossen, hellen Saal [11]. Dort sass ein kleiner Zwergen-König auf seinem Thron. Er trug eine Krone aus Gold und Edelsteinen. In der Hand hielt er einen goldenen Stab. Um ihn herum standen viele Zwerge: Männer, Frauen und auch Kinder. Sie hatten schöne, farbige Kleider und lachten und tanzten fröhlich. Wendelin hörte eine wunderbare Musik. Sie war so schön, dass er an nichts anderes mehr denken konnte. Er stand einfach da und schaute mit offenem Mund [12] zu. Da kamen die Zwerge zu Wendelin und sagten: "Komm doch und tanz mit uns." Sie nahmen ihn an den Händen und zogen ihn mit. Alle tanzten jetzt immer schneller um den Thron des Königs. Aber das Tanzen war ganz anders, als bei den Menschen. Wendelin fühlte sich dabei ganz leicht. Er sagte: "Das ist, als könnte ich fliegen. Es ist wie in einem Traum." Er spürte kein Müdigkeit, keine Hitze, keine Kälte, keinen Hunger und keinen Durst mehr. Er vergass seine Eltern und seine Ziegen. Er vergass sogar die Zeit und dachte: "Ich könnte für immer so weiter tanzen."
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Doch plötzlich hörte die schöne Musik auf und es war ganz still. Der König sagte: "So, mein lieber Wendelin. Jetzt musst du wieder nach Hause zurück. Komm zu mir. Ich will dir noch ein Geschenk geben, damit du uns nicht vergisst." Der König der Zwerge gab Wendelin einen kleinen Hut und sagte: "Dieser Hut ist etwas ganz besonderes. Er ist eine Tarnkappe. Wenn du sie auf deinen Kopf setzt, macht sie dich unsichtbar. Aber pass auf! Du darfst sie nie für etwas Schlechtes brauchen, sonst müssen wir dich schrecklich [13] bestrafen." Wendelin nahm die Tarnkappe und antwortete: "Lieber König, vielen Dank für das schöne Geschenk! Ich verspreche, dass ich die Tarnkappe nie für etwas Schlechtes brauchen werde. Auf Wiedersehen, ihr lieben Zwerge!"
Der alte Zwerg, der Wendelin mitgenommen hatte, brachte ihn wieder nach Hause zurück. Draussen war es schon Abend und die Sonne ging unter. Wendelin sagte: "Oje. Jetzt war ich so lange bei euch. Ich habe die Zeit völlig vergessen. Hoffentlich ist mein Vater noch nicht zu Hause, sonst schimpft [14] er mit mir". Als sie im Dorf ankamen, klopfte der Zwerg an die Türe. Wendelins Eltern kamen heraus. Als sie ihn sahen, riefen beide: "Da bist Du ja! Wir haben uns so grosse Sorgen um dich gemacht! Wo warst Du?" Der Zwerg sagte: "Bitte schimpft nicht mit ihm. Er war den ganzen Nachmittag bei uns Zwergen." Dann ging er zurück in seinen Berg.
Der Vater rief wütend: "Wendelin, du warst nicht nur einen Nachmittag weg. Es waren drei Tage! Wir haben dich überall im Wald gesucht. Wir hatten so grosse Angst! Wir haben schon gemeint, du seist tot. Dabei hast du die ganze Zeit mit den Zwergen getanzt und hast uns vergessen. Ich werde dich bestrafen!" Der Vater ging nach draussen und holte einen Ast, um Wendelin damit zu schlagen.
Wendelin war sehr traurig und verwirrt [15]. Er hatte nicht gewusst, dass er so lange weg gewesen war und es tat ihm sehr leid. Der Vater kam zurück und begann, ihn zu schlagen. Da erinnerte sich Wendelin an die Tarnkappe. Er hatte sie noch immer in der Hand. Schnell setzte er sie sich auf den Kopf und rannte weg. Der Vater schlug plötzlich in die Luft. So hatten die Zwerge Wendelin vor der Strafe beschützt.
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Wendelin konnte die Zwerge nicht mehr vergessen. Er hätte sie so gern noch einmal im schönen Saal besucht und mit ihnen getanzt. Darum ging er immer wieder in den Wald und rief: "Lieber Zwerg, wo bist Du? Bitte komm doch zu mir! Ich möchte euch noch einmal sehen." Aber er traf den alten Zwerg nie mehr an. Auch als er selber nach dem Felsspalt suchte, fand er ihn nicht wieder. Wenigstens hatte er die Tarnkappe. Er hatte sie immer dabei, sogar noch, als er ein erwachsener Mann war. Als Kind brauchte er sie für Spiele oder um heimlich unsichtbar durch das Dorf zu laufen. Später beschützte sie ihn vor vielen Gefahren, wie zum Beispiel vor Räubern. Einmal rettete er damit sogar ein Kind vor einem wütenden Bauern.
Wendelin benutzte die Tarnkappe sein Leben lang nie für etwas Schlechtes. Denn er erinnerte sich immer daran, was der König ihm gesagt hatte: "Aber pass auf! Du darfst sie nie für etwas Schlechtes brauchen, sonst müssen wir dich schrecklich bestrafen."
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Ich frage mich, was wohl aus dieser Tarnkappe geworden ist. Es wäre doch schön, wenn die Geschichte wahr wäre und es irgendwo so eine gäbe. Aber ich bin nicht sicher, ob ich sie wirklich haben möchte. Ich denke, ich würde damit irgendwann etwas Schlechtes ausprobieren, wie zum Beispiel jemandem im Restaurant die Pizza vom Teller klauen [16]. Darum ist es besser für mich, wenn ich nicht ständig mit der Warnung der Zwerge leben muss.
So, und nun wünsche ich Ihnen ganz schöne Ostern mit oder ohne Osterhasen! Vielleicht haben Sie ja auch kleine Kinder und müssen ihnen heimlich ein Nestchen verstecken. Dann hoffe ich, dass Sie dabei nicht erwischt werden, auch wenn Sie keine Tarnkappe haben.
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie auch am 12. April wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst "Andrea erzählt" Dann werde ich Ihnen "die Geschichte vom Böögg" erzählen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Auf Wiederhören!
1 das Nestchen: ein kleines Nest, eine Art Körbchen, in dem Tiere ihre Jungen oder Eier haben
2 etwas schaffen: etwas erreichen, etwas Schwieriges können
3 unsichtbar: etwas, das da ist, das man aber nicht sehen kann
4 lauschen: heimlich zuhören
5 die Tarnkappe: eine Kappe (Hut), die unsichtbar macht, wenn man sie trägt
6 der Ziegenhirt: jemand, der auf Ziegen aufpasst
7 die Weide: eine Wiese, auf der Tiere fressen
8 der Busch: ein kleiner Strauch, Baum
9 der Felsspalt: ein sehr enger Durchgang in einem Fels (Stein)
10 kriechen: ganz nahe am Boden gehen, auf Hände und Füssen
11 der Saal: ein sehr grosses Zimmer, ein grosser Raum
12 mit offenem Mund: sprachlos, staunend
13 schrecklich: furchtbar, fürchterlich, grauenhaft
14 schimpfen: jemanden für etwas böse sein und ihn mit Worte bestrafen
15 verwirrt: durcheinander
16 klauen: stehlen