Gleich zum Trost: Probleme mit der Klimatisierung hatte der Orient-Express auch schon. Doch das ist wirklich die einzige Parallele zwischen der Beförderung mit dem ICE und einer Reise im Orient-Express. Der rollte am 5. Juni 1883 erstmals los.
Manchmal ist Liebeskummer der Beginn von etwas ganz Besonderem:
Den luxuriösesten Zug der Weltgeschichte beispielsweise soll es nur deshalb gegeben haben, weil sein Erfinder eine Frau vergessen wollte. So heißt es. Georges Nagelmackers, ein Belgier, hatte auf seinen Heiratsantrag einen Korb bekommen und ist verzweifelt auf eine Reise in die USA geflüchtet. Dort aber entdeckt der Ingenieur Nagelmackers die Geheimnisse des amerikanischen Schlafwagenbaus - und sieht plötzlich wieder Licht am Ende des Tunnels. Zurück in Europa brütet er eine außergewöhnliche Idee aus, den Orient-Express. Und tatsächlich: Am 5. Juni 1883 fährt der internationale Luxus-Zug zum ersten Mal und verbindet Paris mit Konstantinopel.
Reisen mit Silberbesteck und Spucknapf
Zunächst führt die Strecke über München, Wien, Budapest und Bukarest.
Mit 81 Stunden und 40 Minuten ist die Reisezeit an den Bosporus nicht nur um einiges kürzer als mit dem gewöhnlichen Schnellzug - die neue Direktverbindung ans Goldene Horn lässt auch sonst keine Wünsche offen: Industrielle, Politiker, Adlige und sogar Könige dinieren an mit schwerem Silbergeschirr gedeckten Tischen. Man sitzt in Garnituren aus Leder und tiefen roten Plüsch-Fauteuils. Man ruht auf Keilkissen und Schlummerrollen und schläft in gestärkten Bettlinnen. Die Gas-Beleuchtung ist festlich - der Parkettboden knarzt in jeder Kurve. Kurzum, der Orient-Express ist ein rollendes Hotel ersten Ranges. Und die von Georges Nagelmackers gegründete Internationale Schlafwagen-Gesellschaft hat wirklich an alles gedacht: sogar an Spucknäpfe aus schwerem Messing. Welche Finesse!
Die illustre Gesellschaft ist wild entschlossen, sich die Luxus-Laune durch nichts verderben zu lassen. Auch nicht durch einen Weltkrieg. Als in Europa 1914 das Grauen losbricht, verlegt man die Strecke kurzerhand etwas weiter nach Süden.
Trotzdem wurden die Annehmlichkeiten auf dem Weg in die Türkei hin und wieder etwas getrübt. Besonders in den ersten Jahren, als das Schienennetz über die vielen Grenzen hinweg noch lückenhaft war, mussten die Herrschaften zwischendurch auf Dampfer ausweichen oder sogar in Pferdekutschen umsteigen. Besonders unkomfortabel wurde es, wenn die kohlebefeuerte Warmwasserheizung ausfiel: Auf dem Balkan soll bei dieser Gelegenheit ein indischer Maharadscha in feinen Seidensaris fast erfroren sein. Das Unglück konnte nur dadurch abgewendet werden, indem der Schaffner dem unermesslich reichen Mann und seinen sieben leichtbekleideten Frauen mit handfester europäischer Wintergarderobe und grobgestrickten Wollmützen aushalf.
Kein "Mord im Orient-Express"
Geradezu sibirische Temperaturen überraschten den Luxus-Zug mehr als einmal - in der Westtürkei steckte er ganze elf Tage lang in einer Schneeverwehung. Und während das Außenthermometer Tag um Tag um ein Grad fiel, ging das Küchenpersonal mit der Flinte auf die Jagd, weil die Lebensmittelvorräte knapp wurden. Es gab auch Überfälle - eine Bande von Banditen soll den Zug 1891 auf dem Balkan zum Entgleisen gebracht, einige Reisende entführt und erst gegen Lösegeld wieder freigelassen haben. Doch das gehört möglicherweise ins Reich der Legenden. Genauso wie andere kriminelle Vorfälle. Einen "Mord im Orient-Express" zum Beispiel - den hat es, soweit bekannt, nie gegeben.