Wir fuhren von Altona nach Kiel. Die Fahrt war wenig ereignisreich. Mein Onkel kontrollierte ein letztes Mal den Inhalt seiner Taschen, prüfte, ob das Empfehlungsschreiben vom dänischen Konsul in Hamburg am rechten Platz saß und ob das Dokument des Saknussemm ordentlich verstaut war. In Kiel hatten wir einen Tag Aufenthalt und fuhren dann mit der Ellenora nach Korsör. Dort stiegen wir wieder in die Eisenbahn und fuhren nach Kopenhagen. Unser Hotel war das "Phönix". Es lag an der Bregade. Wir erfrischten uns ein wenig und suchten anschließend das Museum der Nordischen Altertümer auf.
Mein Onkel hatte ein Empfehlungsschreiben an Herrn Professor Thomson, der uns einen herzlichen Empfang bereitete, auch wenn ein Gelehrter normalerweise einem anderen Gelehrten nicht unbedingt gnädig ist. Herr Thomson stellte sich uns ganz zur Verfügung und wir gingen gemeinsam mit ihm am Kai entlang, um ein auslaufendes Schiff zu finden.
Wir fanden einen kleinen dänischen Schoner, der am 2. Juni nach Reykjavik in See stechen sollte. Sein Name war Walküre. Der Kapitän, Herr Bjarne, war an Bord. Mein Onkel drückte ihm so heftig die Hände, dass sie fast brachen. Das verwirrte Herr Bjarne etwas, denn er fand nichts dabei, nach Island zu fahren, das war schließlich sein Beruf. Mein Onkel aber war hoch erfreut, ein Schiff gefunden zu haben, das uns nach Island bringen konnte. Da mein Onkel seine Begeisterung nicht versteckte, kostete uns die Überfahrt auf der Walküre fast das Doppelte, aber wir nahmen es nicht so genau.
Herr Bjarne steckte eine beträchtliche Anzahl an Speciestaler ein und sagte dann: "Seien Sie am Dienstag um sieben Uhr morgens an Bord." Wir dankten Herrn Bjarne und auch Herrn Thomson für seine Hilfe und kehrten in unser Hotel zurück.
"Was für ein glücklicher Zufall.", freute sich mein Onkel. "Wir haben tatsächlich ein Schiff gefunden. Nun werden wir zu Mittag essen und dann die Stadt besichten." Und so gönnten wir uns nach einem Mahl in einem französischen Restaurant einen Stadtbummel. Ich musste immer an Grete denken, der dieser Spaziergang sicher auch Freude bereitet hätte. Mein Onkel wollte schließlich den Glocketurm auf der Insel Amak besteigen und so fuhren wir mit einem kleinen Dampfboot hinüber. Der Glockenturm, der es meinem Onkel angetan hatte, gehörte zur Vor-Frelsers-Kirche. Er war ziemlich hoch und von der Plattform führte eine Wendeltreppe außen am Turm entlang.
"Steigen wir hinauf.", sagte mein Onkel. Ich erschrak. "Da wird man doch schwindelig." Er sah mich prüfend an. "Eben darum. Man muss sich daran gewöhnen. Also los, verlieren wir keine Zeit." Ich musste gehorchen und so stiegen wir hinauf, nachdem wir uns beim Küster den Schlüssel besorgt hatten. Mein Onkel stieg munter voran. Ich folgte ihm langsam, denn ich wurde immer leicht schwindelig. Solange wir innen im Turm waren, ging alles gut. Nach hundertfünfzig Stufen aber schlug mir frische Luft ins Gesicht und wir hatten die Plattform erreicht. Von hier aus führte die Treppe außen am Turm nach oben. Die Stufen wurden immer schmaler und das Geländer wirkte schwach und wackelig. "Das kann ich nicht!", rief ich entsetzt. "Memme!", erwiderte mein Onkel und trieb mich unerbittlich an. "Weiter."
Ich klammerte mich an das Geländer und gehorchte. Die Windstöße raubten mir fast den Atem und der Turm schien zu schwanken. Meine Beine wollten nicht mehr weiter und so kletterte ich auf den Knien weiter. Schließlich kroch ich auf dem Bauch. Mir wurde himmelangst und ich schloss die Augen. Mein Onkel packte mich am Kragen und so erreichte ich das Ende der Treppe. "Schau hinunter. Du musst lernen, in Abgründe zu schauen.", befahl mein Onkel. Ich öffnete gehorsam die Augen. Ich schaute auf die Häuser hinunter und sah zerzauste Wolken vorbei ziehen. In der Ferne sah ich auf der einen Seite grüne Felder auf der anderen Seite glitzerte das Meer in der Sonne. Alles wirbelte vor meinen Augen und ich glaubte, mit dem Turm und meinem Onkel fortgerissen zu werden, während die Wolken sich nicht bewegten. Mein Onkel zwang mich aufzustehen und alles zu betrachten. Meine erste Antischwindellektion dauerte fast eine Stunde.
Als wir endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten sagte mein Onkel freundlich: "Morgen wiederholen wir die Lektion." Mir wurde flau, aber mein Onkel war gnadenlos. Fünf tage zwang er mich auf den Turm und ohne mein Zutun machte ich schließlich große Fortschritte in der Kunst, aus großer Höhe in die Tiefe zu blicken.