Am 9. März 1839 wurde in Preußen die Kinderarbeit verboten. Doch die plötzliche Angst um die Gesundheit der Kinder entsprang keineswegs der Sorge um deren ureigenes Wohl.
Das Militär hat das Sagen - im preußischen Staat. Der Generalleutnant Heinrich Wilhelm von Horn beschwert sich 1828 im Landwehrgeschäftsbericht: Krüppel könne man in der Armee nicht gebrauchen. Kinder, die in Fabriken arbeiteten, sollten zumindest so weit geschont werden, dass aus ihnen noch tüchtige Rekruten werden konnten.
Entscheidender Schritt
Also beauftragt Friedrich Wilhelm III. seinen Kultusminister von Altenstein und seinen Innenminister Schuckmann, der Sache nachzugehen. Und tatsächlich - ein paar Jahre später sind alle zum entscheidenden Schritt gegen die Industrie bereit. Im Regierungsbezirk Rheinland entwirft die Verwaltung eine Verordnung. Am 9. März 1839 unterschreibt dann der König das "Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter", vom rheinischen Gesetzestext inspiriert. Dass damit ausgerechnet ein deutscher General zum Initiator sozialpolitischer Maßnahmen wurde, gehört zur Ironie - und vielleicht zur Ambivalenz - der preußischen Geschichte.
Von nun an dürfen Kinder unter neun Jahren nicht mehr in Fabriken oder bei Berg-, Hütten- und Pochwerken malochen. Diejenigen, die das 17. Lebensjahr noch nicht erreicht haben, müssen drei Jahre Schulbesuch vorweisen, lesen und schreiben können oder die fabrikeigene Schulbank drücken. Sicherlich macht dies aus Preußen noch keinen sozialen Pionierstaat. Wie später unter Bismarck dominiert das realpolitische Kalkül, nicht die Sorge um die Menschenrechte.
Die Einschränkung der Kinderarbeit war dennoch ein Meilenstein. Sie zeugt von einer "moralischen Revolution" im Sinne des Philosophen Kwame Anthony Appiah: Was vorher allgemein akzeptiert war, wird verpönt. Die Gesellschaft nimmt Anstoß an etwas, das sie früher billigte.
Der frühe industrielle Kapitalismus war nämlich keineswegs kinderfreundlich: Die Jüngeren stellten eine billige Arbeitskraft dar. Beim Spinnen waren die kleinen Finger der Mädchen oder in der Baugrube die Beweglichkeit der Knaben gefragt. Im Preußen des 19. Jahrhunderts war außerdem Kinderarbeit auch für die Eltern ein Segen - finanziell unabdingbar und pädagogisch geschätzt.
In die Wupper gestürzt
Das Regulativ weist jedoch auf einen Wandel hin: Das kollektive Bewusstsein für das Wohl der Kinder - zunehmend als Individuen anerkannt - wird allmählich stärker. England, die andere große Industrienation, hat es vorgeführt und bereits 1833 den "Factory Act" verabschiedet. Als Gutachter des Kultusministeriums durch die rheinischen Gebiete reisen und über müde, blasse Kinder berichten, wächst auch bei den Deutschen die Empörung. Als ein Mädchen sich wegen eines Lohnabzuges in die Wupper stürzt, kann Berlin nicht mehr wegsehen.
Der preußischen Novelle folgen weitere Regelungen in Bayern und Sachsen. Später werden die Einschränkungen der Kinderarbeit immer strenger, die Kontrollen wirksamer - bis zum 1976 in Kraft getretenen Jugendarbeitsschutzgesetz, das neben dem Mindestalter von 14 Jahren weitere Bedingungen festschreibt.