Die Mutter Marie Hesse kam aus Indien, wo sie am 18. Oktober 1842 in einer Missionarsfamilie zur Welt kam. Der Sohn Hermann Hesse wird später die Sehnsucht der Mutter nach Indien teilen.
Neun Kinder hat Marie Hesse geboren, sechs überleben die frühe Kindheit. Von allen das lebhafteste ist Hermann. Die Streiche des späteren Lieblingsdichters der Hippie-Generation füllen das mütterliche Tagebuch. "Wenn ich nur jemand draußen den Namen Hermann nennen höre, ist mirs schon angst, was wieder los sei. Ja, er ist ganz furchtbar lebhaft, rasch, umtriebig und folgt leider nicht." Marie Hesse wirkt, je nach Tagesform, mal angestrengt, mal amüsiert. Und sie weiß, als Kind war sie nicht viel besser. So steht es zumindest in der Lebensbeschreibung, die sie hinterlassen hat.
Spinat an die Wand gepfeffert
Marie Hesse wird am 18. Oktober 1842 als Tochter einer Missionarsfamilie in Indien geboren. Als man sie Jahre später heim in die Schweiz verfrachtet, passt ihr das gar nicht. Der Spinat hier schmeckt ihr nicht, sie pfeffert ihn an die Wand und schreit: "In Indien fressen Kühe grünes Gras!" Da setzt es die Rute, so viel ist klar. Und jede Menge frommer Ermahnungen, denn die Eltern sind Pietisten, und im Milieu dieser protestantischen Sekte zählt nichts so sehr wie Selbstbeherrschung. Die junge Marie tut sich schwer damit. In dem Baseler Mädcheninstitut, in dem sie erzogen wird, sagen die Leute, ein Dämon schaue ihr aus den Augen. Mit 16 holen die Eltern ihre Tochter nach Indien zurück. Auf dem Schiff verliebt sie sich leidenschaftlich in einen jungen Engländer, doch die Eltern hintertreiben seine Briefe und zerstören die Beziehung. Der junge Mann ist kein Pietist. Und Marie soll im Milieu bleiben.
Marie steht große Seelenqualen durch, aber sie fügt sich. Entdeckt im Heiland ihren Retter. Heiratet einen Missionar, nach seinem Tod einen zweiten, Hermann Hesses Vater. Lebt mit ihrer Familie im schwäbischen Calw und sehnt sich immer nach der Ferne. Schreibt Artikel für Missionszeitschriften. Und eine Lebensbeschreibung des Entdeckers David Livingstone. Marie spricht mehrere Sprachen, liest nicht nur die Bibel, sondern auch Dichter wie Schiller und Eichendorff. So lange der Heiland an erster Stelle steht, ist das für sie in Ordnung.
Dass ihr Sohn Hermann seinen Weg zu Gott so gar nicht finden will, dass seine Pubertät ihn selbst und die Familie an den Rand des Wahnsinns bringt, macht ihr viel Sorge. Und die Erstlingswerke ihres Sohnes findet sie gar nicht gut. Zu viel Lust und Liebe, zu wenig Heiland.
Sehnsucht nach Indien
Hermann Hesse geht seinen Weg unbeirrt weiter. Lebt aus, was seine Mutter sich verbot. Verteidigt in seinem Werk das Recht des Individuums gegen alle Glaubenssysteme und Ideologien dieser Welt. Noch heute finden vor allem junge Menschen in seinen Büchern Hilfestellung für ein unkonventionelles, selbstbestimmtes Leben. Dass er seiner Mutter viel verdankt, hat Hermann Hesse trotzdem nie vergessen. Und wahrscheinlich gäbe es ohne sie, die sich ihr Leben lang nach Indien sehnte, auch den "Siddharta" nicht, die Geschichte eines indischen Brahmanensohns, der kein Brahmane wird. Sondern zu sich selbst findet.