Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung «Andrea erzählt» vom 28. Februar 2014. Die beiden letzten Male habe ich Ihnen von der Liebe erzählt. Daher finde ich, es ist wieder einmal Zeit für etwas ganz anderes. In der heutigen Geschichte geht es um das Stehlen [1]. Wie viele Schweizer Geschichten, gibt es diese auch bei den Gebrüdern Grimm. Das zeigt mir einmal mehr, wie ähnlich die Deutschen, die Schweizer und die Österreicher einander sind. Auch, wenn wir das manchmal nicht glauben wollen. Nun wünsche ich Ihnen viel Vergnügen mit der «Geschichte vom Meisterdieb [2]»!
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Vor langer Zeit lebte einmal ein armer, alter Bauer mit seiner Frau. Eines Abends hielt ein wunderschöner Wagen mit vier schwarzen Pferden vor ihrem Haus und ein reicher Mann stieg aus.
Der Bauer stand auf und sagte: «Guten Abend. Wer sind Sie? Und was können wir für Sie tun?» Der reiche Mann sagte: «Ich habe nur einen Wunsch: Ich möchte heute Abend so essen, wie ihr Bauern esst. Kocht mir bitte Kartoffeln.» Der Bauer lächelte und sagte: «Kommen Sie nur, wir kochen gern für Sie.»
Die Frau ging in das Haus, um zu kochen. Der Bauer sagte 20140228 D Meisterdieb Grimmzu dem reichen Mann: «Ich muss im Garten noch ein paar Bäume pflanzen [3]. Kommen Sie doch mit.» Der reiche Mann fragte: «Habt ihr denn keine Kinder, die euch helfen können?» Der Bauer antwortete traurig: «Wir hatten einmal einen Sohn. Er war sehr klug [4], aber leider wollte er nichts lernen und hat nur dumme Dinge getan. Eines Tages war er plötzlich weg.»
Nun pflanzte der Bauer einen jungen Baum in den Boden. Dann band [5] er ihn an einem Stock [6] fest, damit er gerade wuchs. Der reiche Mann fragte: «Warum bindest du nicht den alten krummen [7] Baum dort drüben an einen Stock, damit er auch wieder gerade wird?» Der Bauer sagte: «Der Baum dort ist alt. Niemand kann ihn wieder gerade machen. Das geht nur, wenn die Bäume noch jung sind.»
Da sagte der reiche Mann: «Es ist wie mit deinem Sohn. Wenn du ihn gerade gemacht hättest, als er noch jung war, wäre er nicht fortgegangen.» Der Bauer schaute ihn an und sagte: «Sie haben recht. Aber vielleicht ist er heute ja ganz anders. Ich würde ihn sicher nur noch an dem dunkeln Fleck auf seiner Schulter erkennen [8].» Da zog der reiche Mann sein Hemd aus und zeigte den Fleck auf seiner Schulter. Der Bauer rief: «Du bist ja Ludwig, mein Sohn! Wie schön! Doch sag mir, wie bist du nur so reich geworden?»
Ludwig sagte: «Ach, Vater. Weil du mich nicht gerade gemacht hast, als ich noch jung war, bin ich eben krumm geworden.
Ich bin ein Dieb geworden, aber ein ganz besonderer: Ich bin ein Meisterdieb. Ich nehme nur Dinge, die schwer zu holen sind. Und ich stehle nie von den Armen!» Auch die Frau freute sich sehr, dass ihr Sohn wieder da war. Aber sie sagte: «Trotzdem bin ich traurig, dass du ein Dieb geworden bist.»
Am nächsten Tag sagte der Bauer: «Der Graf im Schloss wird dich töten, wenn er herausfindet, dass du ein Dieb geworden bist. Dabei hatte er dich so gern, als du noch ein Kind warst.» Ludwig antwortete: «Ich werde ihn morgen besuchen und alles wird gut.»
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Am nächsten Tag sagte Ludwig dem Grafen, dass er ein Meisterdieb geworden war. Der antwortete: «Ich sollte dich töten, wie alle Diebe. Aber wenn du wirklich ein so guter Dieb bist, wie du sagst, lasse ich dich frei. Ich gebe dir drei Aufgaben: Als Erstes musst du mir mein liebstes Pferd stehlen. Als Zweites musst du meiner Frau das Bett-Tuch [9] und ihren Ring wegnehmen, wenn sie schläft. Und als Drittes musst du den Pfarrer [10] aus der Kirche stehlen.»
Ludwig ging in die Stadt und kaufte die Kleider einer armen Frau. Nun nahm er ein Fass [11] Wein und tat Schlafmittel hinein. Als es dunkel wurde, ging er damit zum Stall des Grafen. Dort sassen die Soldaten um ein Feuer und passten auf das liebste Pferd des Grafen auf. Ludwig hustete und die Soldaten sagten: «Komm, du arme, kranke Frau, setz dich zu uns ans Feuer. Dafür gibst du uns von deinem Wein.» Sobald die Soldaten den Wein getrunken hatten, schliefen sie ein. Nun ging Ludwig in Ruhe in den Stall und nahm das Pferd. Am nächsten Tag ging er damit zum Grafen. Der lachte und sagte: «Aber das nächste Mal wird es nicht so einfach werden!»
Als die Gräfin an diesem Abend zu Bett ging, legte sie ihre Hand mit dem Ring unter das Kopfkissen. Der Graf sagte: «Alle Türen sind verschlossen und ich bleibe wach und warte auf Ludwig. Wenn er zum Fenster herein kommt, werde ich ihn erschiessen.» Inzwischen ging Ludwig zu dem Galgen [12], holte einen Toten [13] herunter und legte ihn sich über die Schulter. Dann nahm er eine Leiter und stieg zum Fenster des Grafen hinauf. Als er oben ankam, hielt Ludwig den armen Toten vor das Fenster. Sofort schoss der Graf auf ihn und Ludwig warf ihn hinunter. Dann ging er selbst ganz leise die Leiter hinab und verstecke sich.
Etwas später stieg er nochmals zum Fenster hoch. Er hörte, wie der Graf sagte: «Ludwig ist tot. Ich habe ihn erschossen. Aber weil ich ihn früher so gern hatte, werde ich ihn selbst im Garten begraben. Gib mir das Bett-Tuch, dann kann ich ihn darin einwickeln [14]. Und gib mir auch deinen Ring. Ludwig ist dafür gestorben, nun werde ich ihn ihm schenken.» Der Graf ging in den Garten und tat, was er gesagt hatte. Sobald er wieder im Bett war, grub Ludwig den Toten aus und nahm ihm das Bett-Tuch und den Ring ab.
Am Morgen ging er damit zum Grafen. Dieser konnte nicht glauben, dass Ludwig noch lebte und sogar den Ring und das Bett-Tuch hatte.
Er sagte: «Ich weiss nicht, wie du das gemacht hast und ich muss sagen: Du bist wirklich gut. Aber du musst ja noch den Pfarrer stehlen. Das kannst nicht einmal du!»
Als es Nacht wurde, ging der Meisterdieb zur Kirche. Er hatte einen grossen Sack mit Krebsen [15] dabei und ein paar Kerzen. Er nahm die Krebse aus dem Sack, klebte [16] jedem eine Kerze auf den Rücken und zündete sie an. Dann liess er sie laufen. Nun nahm er den leeren Sack und ging damit in die Kirche. Dort rief er laut: «Heute geht die Welt unter! Ich bin Petrus und habe den Schlüssel zum Himmel. Wer in den Himmel will, muss schnell in meinen Sack hinein, sonst kommt er für immer in die Hölle [17]. Seht ihr die vielen Lichter da draussen vor der Kirche? Das sind die Toten, die auch in den Himmel wollen. Beeilt euch!»
Nur der Pfarrer in seinem Haus neben der Kirche hörte, was Ludwig da sagte. Er rannte sofort in die Kirche und rief: «Schnell, nimm mich mit!» Dann sprang er in den Sack. Ludwig band ihn sofort zu und zog ihn durch das Dorf zum Schloss. Als der Sack auf die harten Steine schlug, sagte er: «Ah, das sind nur die Berge.» Und als er den Sack über die nasse Strasse zog, sagte er: «Das war nur der Regen in den Wolken. Wir sind bald da.»
Endlich kam Ludwig zum Schloss. Dort brachte er den Sack mit dem Pfarrer in den Hühnerstall und sagte: «Wir sind im Himmel angekommen. Hörst du die Flügel der Engel?» Dann schloss er den Stall ab, ging zum Grafen und sagte: «Jetzt habe ich alle drei Aufgaben gelöst. Der Pfarrer ist ihm Hühnerstall. Aber du musst keine Angst haben, es geht ihm gut. Er glaubt, er sei im Himmel.» Da sagte der Graf: «Du bist wirklich ein Meisterdieb. Ich lasse dich frei. Aber du musst aus meinem Land fort, denn wenn ich dich je wieder sehe, bist du tot.»
Ludwig ging noch ein letztes Mal zu seinen Eltern und sagte: «Ich werde wieder in die Welt hinaus gehen. Aber ihr müsst nicht traurig sein, ich werde euch nie vergessen.» Seither hat ihn niemand mehr gesehen.
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Stehlen ist ja eigentlich schlecht. Trotzdem freut es mich, dass Ludwig alle Aufgaben geschafft hat. Aber ich bin auch ein bisschen traurig, weil er seine Eltern nie wieder sehen wird. Darum ist dies eigentlich doch eine Geschichte über die Liebe geworden: eine Geschichte über die Liebe zu der eigenen Familie.
Nun wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie auch am 14. März wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt». Dann werde ich Ihnen «die Sage vom Schwedenross [18]» erzählen.
Auf Wiederhören!
[1] stehlen: jemandem etwas wegnehmen, was einem nicht gehört, klauen
[2] Meisterdieb (der): ein Dieb ist jemand, der stiehlt und ein Meister ist jemand, der etwas besonders gut kann. Ein Meisterdieb ist also jemand, der besonders gut stehlen kann
[3] pflanzen: Samen oder Pflanzen in die Erde tun, damit sie wachsen
[4] klug: gescheit, intelligent
[5] binden: mit einer Schnur, einem Seil oder einem Faden befestigen, anmachen
[6] Stock (der): langes, schmales Stück Holz, Pfahl
[7] krumm: schief, nicht gerade
[8] erkennen: kennen, merken, wer jemand ist
[9] Bett-Tuch (das): Leintuch, Stück Stoff, mit dem man die Matratze bedeckt und auf dem man schläft
[10] Pfarrer (der): Priester
[11] Fass (das): Gefäss, meist aus Holz und meistens gross, in dem man zum Beispiel Wein aufbewahrt
[12] Galgen (der): Gestell aus Holz, an dem man früher die Kriminellen mit einem Seil um den Hans aufhängte, bis sie tot waren
[13] Tote (der): ein toter Mensch, ein Leiche, jemand der gestorben ist
[14] einwickeln: einrollen, einpacken
[15] Krebse: Tiere mit bis zu zehn Beinen und einem harten Panzer, sie leben fast immer im Wasser und haben vorne Scheren, um damit Dinge festzuhalten
[16] kleben: befestigen, festmachen, zum Beispiel mit Leim oder mit Wachs
[17] Hölle (die): der Ort, an dem nach dem Glauben vieler Religionen der Teufel lebt, das Gegenstück zum Himmel, in dem Gott lebt
[18] Schwedenross (das): schwedisches Pferd