Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung «Andrea erzählt» vom 17. Januar 2014. Ich hoffe, Sie sind gut in das neue Jahr gestartet, und freue mich sehr, sind Sie wieder dabei.
Haben Sie sich auch ein paar Vorsätze [1] gemacht für das neue Jahr? Gibt es ein Ziel, das Sie unbedingt erreichen wollen? Dann erleben Sie vielleicht schon jetzt nach zwei Wochen, wie schwer es ist, auf dem Weg dorthin zu bleiben. Mir geht es auf jeden Fall so. Darum erzähle ich Ihnen heute die Geschichte von einem Mann, der es geschafft hat, sich nicht von seinem Ziel abbringen [2] zu lassen. Sie heisst: «Die Sage [3] vom Paradies.» Sie ist aus dem Wallis im Südwesten der Schweiz. Nun wünsche ich Ihnen viel Vergnügen!
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Vor vielen, vielen Jahren lebte in den Walliser Bergen einmal ein armer Kesselflicker [4]. Er flickte [5] alte Kochtöpfe und verkaufte neue. Der Kesselflicker hatte eine Frau und sieben Kinder. Weil sie so arm waren, hatten sie meistens nicht genug zu essen und mussten viel leiden [6]. Dabei tat der Kesselflicker alles, was er konnte und arbeitete sehr hart. Er wanderte von Dorf zu Dorf und rief: «Wer hat einen Kessel zum Flicken? Wer braucht einen neuen Kochtopf? Ich arbeite gut und billig!»
Doch es half alles nichts. In den meisten Dörfern sagten die Menschen zu ihm: «Wir haben schon Kessel, die geflickt werden müssen. Und neue könnten wir auch gut gebrauchen. Aber wir haben leider selbst kein Geld, um dich dafür zu bezahlen.» In einigen Dörfern war es sogar noch schlimmer. Hier war es ganz still. Denn alle Kinder, alle Frauen und alle Männer waren tot. Eine böse Krankheit war ins Land gekommen: die Pest [7]. Es waren sehr, sehr traurige Zeiten.
Trotzdem ging der Kesselflicker immer weiter und weiter und suchte nach Arbeit. Aber niemand konnte ihm helfen. Eines Tages sagte er: «Ich habe keine Kraft mehr. Ich gebe mir so grosse Mühe, und doch habe ich einfach nie genug Geld für meine arme Familie. Am liebsten möchte ich einfach nur noch schlafen, bis ich tot bin. Aber für meine Frau und meine armen Kinder muss ich weitermachen.»
Bald kam der Kesselflicker wieder in ein Dorf, in dem es ganz still war. Wie immer klopfte er an jede Türe und rief: «Hallo? Ist jemand da? Bitte helft mir und meiner Familie und gebt mir Arbeit!» Aber niemand gab ihm Antwort. Vor dem letzten Haus sass ein winziges, altes Männchen. Es hatte einen schmutzigen Bart und riesige grüne Augen, wie ein Frosch [8].
Traurig schaute es den Kesselflicker an und sagte: «Du musst dir keine Mühe geben. Hier lebt keiner mehr, nur ich bin noch da. Aber ich brauche deine Arbeit und deine Töpfe nicht. Ich bin ein reicher Mann. Dieses ganze Dorf gehört mir.»
Dann lachte das Männchen laut und schlug sich mit der Faust auf die Stirn. Plötzlich wurde es wieder ernst und fragte den Kesselflicker «Soll ich dir zeigen, wo du Hilfe findest? Du siehst aus wie ein guter Mensch.»
Der Kesselflicker wurde ganz aufgeregt und sagte: «Oh, ja! Da wäre ich sehr froh! Doch ich glaube nicht, dass ich noch jemanden finde, der mir helfen kann.» Das Männchen stand auf und sagte: «Rede nicht und komm mit.» Es ging vor dem Kesselflicker langsam den Berg hinauf. Die beiden wanderten viele Stunden, bis sie zu einer kleinen Wiese kamen. Hinter der Wiese ging es noch weiter hinauf bis zu der Spitze des Berges. Auf der anderen Seite der Wiese war eine steile [9] Felswand, die bis tief ins Tal hinunter ging.
Die Sonne ging gerade langsam unter und es wurde dunkel. Das Männchen zeigte auf den schmalen [10] Weg, der bis zu der Spitze des Berges führte. Ganz oben sah der Kesselflicker ein kleines Licht. Das Männchen sagte: «Da gehst du jetzt hinauf. Aber pass gut auf und schaue nie nach unten. Denn dort ist das Meer. Und es will dich haben. Schaue immer nur zu dem kleinen Licht ganz oben auf dem Berg. Das ist sehr schwierig, aber du musst es tun. Schon bald wird die Nacht ganz dunkel sein und böse Geister werden dich rufen. Sie bauen dir schöne Brücken über das Meer und wollen, dass du über sie hinüber gehst. Tue es nicht! Gehe einfach weiter, denn sonst wird das Meer dich mit roten, wütenden Wellen herunter reissen [11].»
Der Kesselflicker sagte. «Ich werde gut aufpassen, das verspreche ich dir! Vielen Dank für deine Hilfe. Vielleicht wird jetzt ja nun alles wieder gut. Auf Wiedersehen!» Dann ging er den Berg hinauf und schaute dabei immer ganz fest auf das kleine Licht. Alles, was das Männchen ihm gesagt hatte, wurde wahr. Tief unten neben dem Weg lag ein weites, grünes Meer. Schon bald wurde es rot und wild, und die Wellen wurden immer grösser und grösser und kamen bis zum Weg hinauf. Der arme Kesselflicker rief: «Das ist viel schwieriger, als ich gedacht hatte! Diese Wellen machen mir Angst und meine Beine sind so schwer.»
Immer wieder stürzte er fast in die Tiefe. Aber er hatte Glück: Jedes Mal konnte er sich noch an einem Ast oder an einem Busch [12] festhalten. Dabei hörte er die bösen Geister rufen: «He Kesselflicker, warum bleibst du auf dem schmalen Weg? Das Leben könnte doch so einfach sein. Schau nur, wir haben dir eine wunderschöne Brücke über das Meer gebaut. Sie bringt dich zum Glück. Komm, Kleiner, komm!» Doch der Kesselflicker hörte nicht zu und schaute weiter nur auf das kleine Licht ganz oben auf dem Berg. Das Meer und die Geister wurden immer wütender und versuchten, ihn herunter zu reissen. Bald war der Kesselflicker ganz nass und müde. Und er weinte.
20140117 D Rocky Cliff with Stormy Sea Cornwall-William Trost Richards-1902
Da, ganz plötzlich war das Meer weg und eine tiefe, heilige Ruhe lag über dem Berg. Der Kesselflicker war zu einem grossen Platz gekommen, auf dem eine Kirche stand. Sie war aus schneeweissen Steinen gebaut und auf der Spitze des Turms war ein Stern aus Gold. Er war das helle Licht, das der Kesselflicker auf seinem Weg gesehen hatte. Die Kirche hatte eine grosse Türe. Darüber stand in goldenen Buchstaben: «Dies ist die Kirche der ewigen [13] Freude.» Auf beiden Seiten standen Wächter [14] mit weissen Hemden.
Der Kesselflicker wollte seine Töpfe auf den Boden legen, damit er sie nicht in die schöne Kirche mitnehmen musste.
Doch die Wächter sagten: «Komm nur herein und bringe alles mit, was zu dir gehört.» So ging der Kesselflicker in die wunderschöne Kirche. Sie war voller Menschen, die ganz still auf den Bänken sassen. Er legte seine Sachen leise auf den Boden und setzte sich zu ihnen.
Weit vorne sah er Männer und Frauen mit weissen Kleidern. Sie sangen Lieder, die waren so traurig wie der Tod, so sanft [15] wie die Liebe, so frisch wie ein Bach und so klar, wie der Himmel. Der Kesselflicker dachte: «Das ist das Schönste, was ich je gehört habe. Ich möchte auch mitsingen.»
Er stand auf und wollte nach vorne gehen. Doch sofort kamen zwei Männer in weissen Kleidern und sagten: «Du bist noch zu schmutzig, um zu singen. Komm mit.» Sie brachten den Kesselflicker in ein rundes Zimmer. Dort wuschen sie ihn so lange mit heissem und kaltem Wasser, bis ihm die Haut abfiel. Doch sofort wuchs ihm eine neue Haut und er spürte keine Schmerzen mehr. Er war so glücklich, wie noch nie. Nun gaben die Männer ihm weisse Kleider und sagten: «Du darfst jetzt nach vorne gehen. Gott wird dir dann eine neues Zuhause geben und dir einen Wunsch erfüllen.»
Der Kesselflicker ging nach vorne und sang und betete so lange, dass er ganz vergass, sich etwas zu wünschen. Da kamen schon die beiden Männer und nahmen ihn wieder mit. Sie gingen mit ihm in einen wunderschönen Garten bis zu einem weissen Haus. Dort gaben sie ihm einen Schlüssel und sagten: «Der ist für das Haus, in dem du ewig wohnen wirst.» Der Kesselflicker antwortete: «Ich freue mich sehr. Doch ich vermisse [16] meine Familie. Darf ich sie auch zu mir holen?» Da sagten die Männer: «Nein, du kannst sie nicht holen. Aber Du musst nicht traurig sein, sie werden irgendwann ganz von selbst zu dir kommen.»
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Das ist eine sehr seltsame Geschichte. Ich finde es traurig, dass der Kesselflicker seiner Familie nicht helfen konnte. Aber diese Sage kommt aus einer Zeit, in der man geglaubt hat, dass das Glück nicht hier auf der Erde sei, sondern im Himmel. Etwas daran gefällt mir aber sehr. Sie zeigt: Wer sein Ziel verfolgt, obwohl es manchmal schwierig ist, wird belohnt. Ich werde versuchen, mich daran erinnern, wenn ich meine Vorsätze wieder einmal aus den Augen verliere [17].
So, und nun wünsche ich Ihnen für das Jahr 2014 ein schönes Ziel und viel Mut und Kraft, um es zu erreichen. Und ganz viel Glück – hier auf der Erde!
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie am 31. Januar wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt». Dann werde ich Ihnen «Das Märchen vom Drächengrudel erzählen». Was das ist, werden Sie bald erfahren [18]. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Auf Wiederhören!
[1] Vorsatz (der): etwas, das man in der Zukunft erreichen will, zum Beispiel sich weniger aufzuregen oder ein paar Kilos abzunehmen
[2] abbringen lassen: sich von etwas ablenken lassen, seine Meinung oder sein Ziel ändern
[3] Sage (die): eine Volkserzählung, die einen Teil Wahrheit enthält
[4] Kesselflicker (der): jemand, der alte Pfannen und Töpfe (Kessel) flickt, ein Beruf, den es heute fast nicht mehr gibt
[5] flicken: reparieren
[6] leiden: etwas Schmerzhaftes, Schlimmes erleben
[7] Pest (die): eine sehr ansteckende tödliche Krankheit, die es heute nur noch selten gibt, man nennt sie auch den «schwarzen Tod»
[8] Frosch (der): Tier aus dem Stamm der Reptilien, das an feuchten Orten lebt, keinen Schwanz hat und «Quack» macht
[9] steil: sehr stark geneigt, (zum Beispiel eine steile Strasse)
[10] schmal: dünn, nicht breit
[11] reissen: stark ziehen, wegziehen
[12] Busch (der): eine niedrige, baumartige Pflanze mit holzigen Ästen
[13] ewig: für immer, ohne Ende
[14] Wächter (der): Aufpasser, Bewacher
[15] sanft: fein, zart
[16] vermissen: etwas stark haben oder sehen wollen, was man nicht mehr hat oder sieht
[17] etwas aus den Augen verlieren: etwas vergessen, nicht mehr daran denken
[18] erfahren: herausfinden, wissen