Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung «Andrea erzählt» vom 6. Dezember 2013. Es freut mich sehr, sind Sie wieder dabei.
Heute ist der Namenstag [1] des heiligen Nikolaus. In vielen Ländern wird er besonders gefeiert, auch in der Schweiz. Bei uns besucht heute ein Mann mit einem roten Mantel und einem weissen Bart die Kinder. Wir nennen ihn «Samichlaus», das kommt von «Sankt Nikolaus». Mit ihm kommt auch «Schmutzli», das ist sein Gehilfe [2]. Er trägt einen braunen Mantel und einen grossen Sack mit Nüssen, Schokolade und Mandarinen für die braven Kinder. Meist haben die beiden Männer auch einen Esel dabei und eine «Fitze». Das ist eine Rute [3] aus kleinen Zweigen [4]. Früher schlug der Samichlaus damit die Kinder, die nicht brav waren. Die besonders schlimmen Kinder wurden sogar in den Sack gesteckt. Aber das war natürlich nur ein Trick der Eltern, die wollten, dass ihre Kinder Angst hatten und darum immer schön lieb waren. Heute macht er das nicht mehr. Und das ist gut so, denn der heilige Nikolaus hat wirklich gelebt. Und er hätte bestimmt nie ein Kind geschlagen. Deshalb erzähle ich Ihnen heute seine Geschichte. Es ist zwar keine Schweizer Geschichte, aber sie gehört trotzdem zu unserer Kultur. Viel Vergnügen!
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In der heutigen Türkei gab es vor vielen hundert Jahren ein kleines Land. Es hiess Lykien. Dort lebte eine reiche Familie. Sie hatte einen Sohn, der hiess Nikolaus. Als er 16 Jahre alt war, starben seine Eltern. So blieb der junge Nikolaus allein in dem grossen, schönen Haus. Weil er selbst etwas so Schlimmes erlebt hatte, kannte er die Traurigkeit und das Unglück sehr gut. Darum half er den hungrigen [5] Kindern und den einsamen, alten Menschen. Wenn sie an seine Türe klopften, sagte er immer: «Kommt herein, ich gebe euch gern etwas. Ich habe ja viel zu viel.» Die Menschen sagten bald: «Nikolaus ist ein ganz besonderer junger Mann. Er hilft allen Armen und Kranken.»
Einmal hörte Nikolaus von einem Mann, der kein Geld hatte, um seine Töchter zu verheiraten. Der sagte zu seinen Töchtern: «Ich kann euch nicht helfen, ihr müsst eure Körper für Geld verkaufen [6].» Da ging Nikolaus zum Haus des Mannes und warf jedem Mädchen eine Kugel aus Gold durch das Fenster und rief: «Es ist nicht richtig, dass ihr Prostituierte werden sollt, nur weil euer Vater arm ist! Jetzt könnt ihr heiraten und ein gutes Leben haben.» Wegen dieser Geschichte wird der heilige Nikolaus übrigens auf vielen Bildern mit drei goldenen Kugeln gezeigt.
Eines Tages verkaufte der junge Nikolaus sein Haus und ging in eine Nikolaus von Myraandere Stadt. Sie hiess Myra. Myra lag am Meer und hatte einen grossen Hafen. In dieser Zeit wurde ein besonderer Mann Kaiser: Er hiess Constantin. Kaiser Constantin war der erste, der die Christen nicht mehr verfolgte [7]. Er sagte: «Alle Menschen dürfen Christen sein. Sie werden nicht mehr dafür bestraft. Sie dürfen auch Kirchen bauen und sich dort treffen.»
Auch Nikolaus war ein Christ. Er sagte: «Das gefällt mir. Ich möchte der Kirche helfen und Priester [8] werden.» So wurde Nikolaus zuerst Priester und weil er seine Arbeit so gut machte, wurde er schon bald Bischoff. Das ist eine Art König der Priester.
Nikolaus war ein guter Bischof. Er half allen Menschen, wo er nur konnte und hatte für Jeden Zeit. Er hatte immer noch Geld von seinen Eltern und von dem Haus, das er verkauft hatte. Er sagte: «Ich brauche dieses Geld nicht für mich. Ich werde damit Häuser für die Armen bauen. Ich bin sicher, dass der liebe Gott das so will.» Also baute Nikolaus Häuser für die Armen, die keine Häuser hatten. Er baute Häuser für die Kinder, die keine Eltern mehr hatten. Ja, er baute sogar ein Haus für alte Seeleute, die nicht mehr auf den Schiffen arbeiten konnten.
Die Menschen hatten ihn alle sehr gern und sagten: «Nikolaus ist wirklich ein Diener von Jesus. Und wie Jesus hilft er den Armen und liebt alle Menschen. Der liebe Gott hat ihn zu uns geschickt.» Doch dann kam ein grosses Unglück nach Myra. Es regnete viele Monate lang nicht mehr und auf den Feldern vertrocknete [9] alles. Die Menschen hatten nichts mehr zu essen. Da betete Nikolaus zum lieben Gott: «Ich habe selbst nichts mehr. Jetzt weiss ich nicht, wie ich den Menschen noch helfen kann. Bitte hilf du mir!»
Schon bald kam ein grosses Schiff aus Ägypten nach Myra. Es hatte viele hundert Säcke Korn [10] geladen. Die Menschen in Myra freuten sich und riefen: «Endlich haben wir wieder Korn und können Brot backen!» Aber der Kapitän sagte: «Ich gebe euch nichts. Das Korn gehört nicht mir. Es gehört meinem Herrn und wenn etwas davon fehlt, dann bestraft er mich.» Doch der Kapitän war kein schlechter Mensch. Die armen Menschen taten ihm wirklich leid, er hatte einfach grosse Angst.
Da ging Nikolaus auf das Schiff und sprach mit ihm: «Herr Kapitän, ich verstehe Sie sehr gut. Aber ich verspreche Ihnen, dass Sie keine Angst haben müssen. Wenn Sie den Menschen vom Korn geben, wird Ihnen nichts passieren. Sie müssen mir einfach vertrauen.» Der Kapitän dachte nach und antwortete: «Also gut, aber ich hoffe sehr, dass Sie recht haben.» Der Kapitän gab den Menschen zwölf Säcke Korn und sie mussten nicht verhungern.
Schon bald kam ein anderes Schiff aus Ägypten. Nikolaus fragte den Kapitän: «Wie geht es dem Kapitän mit dem vielen Korn?» Der Kapitän antwortete: «Oh, dem geht es sehr gut. Er hat alle Säcke nach Hause gebracht. Kein einziges Körnchen [11] hat gefehlt. Sein Herr war sehr zufrieden mit ihm.» Da sagten die Menschen in Myra: «Der liebe Gott hat Nikolaus geholfen, ein Wunder zu tun. Er ist heilig.»
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Ein paar Jahre später passierte wieder ein Wunder. Ein grosses Segelschiff kam über das Meer. Doch bevor es in Myra war, kam ein grosser Sturm und das Schiff wäre fast untergegangen [12]. Da sahen die Männer auf dem Schiff plötzlich einen Fremden. Er stand hinter dem Steuer des Schiffs und fuhr ganz ruhig durch den Sturm und brachte das Schiff in den Hafen. Als die Seemänner am nächsten Tag in die Kirche gingen, um Gott zu danken, trafen sie Bischoff Nikolaus. Da riefen die Männer: «Das ist doch der Mann, der unser Schiff gerettet hat!» Wieder hatte der liebe Gott Nikolaus geholfen, Gutes für die Menschen zu tun.
In dem lagen Jahren seines Leben tat Nikolaus noch viele andere gute Dinge, die ich hier nicht alle erzählen kann. Aber man kann sich gut vorstellen, wie traurig die Menschen waren, als er alt wurde und starb. Sie kamen aus allen Ländern der Welt, um ihn noch einmal zu sehen und sagten: «Ein Vater ist gestorben. Er hat immer so gut auf uns aufgepasst. Wir werden ihn nie vergessen.»
Und das ist wahr. In Demre in der Türkei steht heute noch eine Kirche für ihn, die «St. Nikolas Kirche». Daraus wurden vor tausend Jahren die Knochen des heiligen Nikolaus gestohlen. Man hat sie nach Bari in Italien gebracht, wo sie noch immer sind – und die Kirche in Demre möchte sie bis heute zurück haben.
Aber auch sonst wurde der heilige Nikolaus bis heute nicht vergessen. Er ist der Schutz-Heilige [13] der Kinder, Bäcker, Apotheker, Seeleute und vieler anderer Menschen.
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Nach dieser schönen Geschichte verstehen Sie sicher, warum ich nicht glauben kann, dass der heilige Nikolaus Kinder geschlagen hätte. Darum finde ich, dass Eltern ihre Kinder ohne solche Tricks erziehen sollen. Übrigens: Weil der Samichlaus in der Schweiz die gleichen Kleider trägt, wie in anderen Ländern der Weihnachtsmann, wird er oft verwechselt [14]. Bei uns ist das nicht so schlimm, denn hier kommt an Weihnachten nicht der Weihnachtsmann, sondern ein Engel. Er heisst «Christkindli». Nun wünsche ich Ihnen noch einen schönen Nikolaustag mit einem Gritibänz. Das ist ein kleiner Mann aus süssem Hefeteig und sehr fein!
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie auch am 20. Dezember wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt». Dann werde ich Ihnen «Die Geschichte vom Reichen und vom Armen» erzählen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Auf Wiederhören!
[1] Namenstag (der): jeder Tag im christlichen Kalender gehört einem oder mehreren Heiligen, an diesem Tag hat er oder sie Namenstag
[2] Gehilfe (der): Helfer, jemand, der hilft
[3] Rute (die): ein Stück weiches Holz, mit dem man z.B. Pferde erzieht
[4] Zweig (der): dünner Ast
[5] hungrig: mit Hunger
[6] seinen Körper für Geld verkaufen: sich prostituieren
[7] verfolgen: jemandem nachrennen, ihn jagen
[8] Priester (der): Pfarrer, Geistlicher, Mann der Kirche
[9] vertrocknen: kaputt gehen, weil zu wenig Wasser da ist
[10] Korn (das): Getreide, Cerealien, daraus kann man zum Beispiel Mehl machen
[11] Körnchen (das): kleines Korn
[12] untergehen: versinken, vertrinken
[13] Schutzheiliger (der): ein Heiliger oder eine Heilige, die ganz besonders auf bestimmte Menschen aufpassen sollen und sie beschützen
[14 ]verwechseln: vertauschen, etwas versehentlich für etwas anderes halten