Das Arbeitszimmer meines Onkels sah aus wie ein Museum. Nach den drei großen Gruppen der brennbaren, der metallischen und der lithoiden Minerale waren alle Proben wohlgeordnet und sauber etikettiert. Als Junge hatte ich lieber als alles andere diese Schätze bewundert und abgestaubt. Jetzt hatte ich natürlich anderes im Kopf, als mich mit diesem Schätzen zu befassen. Mein Onkel saß in seinem großem Plüschsessel, hielt ein Buch in seinen Händen und rief: "Was für ein Buch! Was für ein Buch! Schau dir diese unschätzbare Kostbarkeit an. Was für ein Einband. Nach sieben Jahrhunderten kein einziger riss im Buchrücken. Es lässt sich problemlos öffnen und schließen."
Begeistert öffnete meine Onkel das Buch und klappte es wieder zu. "Wie lautet denn der Titel dieses Wunderwerkes?", erkundigte ich mich höflich. "Dies hier ist die Heimskringla von Snorri Sturleson. Er war ein isländischer Schriftsteller des 12. Jahrhunderts. Es ist eine Chronik der norwegischen Fürsten, die über Island regierten." "Wirklich?", rief ich und heuchelte Interesse. "Es ist doch sicherlich eine Übersetzung?" Mein Onkel schnaubte verächtlich. "Was soll ich mit einer Übersetzung? Es ist selbstverständlich das Originalwerk. In isländischer Sprache geschrieben. Prachtvoll. Handgeschrieben. Runenschrift."
Mir blieb vor erstaunen der Mund offen stehen. "Runen?" "Du weißt doch wohl, was Runen sind?", rügte mein Onkel mich und obwohl ich natürlich wusste, was Runen waren, begann er einen umständlichen Vortrag über eben diese Runen zu halten. "Die Runen waren einst in Island benutzte Schriftzeichen.", er blätterte begeistert in dem Buch und ich fiel auf Knie, um ein fleckiges Pergament aufzufangen, das aus dem Buch fiel und auf den Boden glitt. Mein Onkel stürzte sich ebenfalls auf das Pergament, das in seinen Augen sicherlich besonders wertvoll war, da es so lange unentdeckt in einem alten Buch geschlummert hatte. "Was ist das?", fragte ich, nun wirklich neugierig. Im selben Augenblick entfaltete er das Pergament, fünf Zoll lang und drei Zoll breit, auf dem in transversalen Linien sich geheimnisvolle Buchstaben aneinanderreihten.
Der Professor betrachtete diese Buchstaben ein paar Augenblicke. Dann sagte er: "Runisch. Die Zeichen stimmen mit denen in der Handschrift des Snorri Sturleson überein. Aber was mögen sie nur bedeuten?" Er vertiefte sich wieder in die Zeichen. "Es ist trotzdem Isländisch.", murmelte er. Ich glaubte ihm unbesehen, denn mein Onkel war wirklich polyglott. Er beherrschte zweitausend Sprachen und viertausend Dialekte fließend und verstand darüber hinaus recht viel davon.
Er war immer noch in die geheimnisvollen Zeichen vertieft, als die Uhr auf dem Kaminsims zwei Uhr schlug. Martha steckte den Kopf in das Arbeitszimmer und sagte: "Das Essen ist angerichtet." Mein Onkel rief: "Zum Teufel mit dem Essen!" Martha floh. Ich folgte ihr und saß wenig später auf meinem Platz im Esszimmer. Ich wartete einige Augenblicke, aber der Professor kam nicht. Zum ersten Mal verzichtete er auf eine Mahlzeit! Nun, ich ließ mir die Petersiliensuppe, das würzige Omelett und die gezuckerten Garnelen schmecken. Martha war empört, denn sie hatte noch nicht erlebt, dass der Professor auch nur eine Mahlzeit versäumt hatte. "Das bedeutet nichts Gutes.", unkte sie. Mir war das herzlich egal. Ich genoss meine letzte Garnele als die donnernde Stimme meines Onkels mich um den Genuss meines Nachtischs brachte. So schnell ich konnte, eilte ich in sein Arbeitszimmer zurück.