Guten Tag, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Hallo und herzlich willkommen zur Sendung "Typisch Helene". Heute ist der 25. März 2011, eigentlich ein ganz normaler Tag, für mich aber ist er trotzdem sehr speziell: Ich bin heute nämlich nicht wie sonst in Zürich, sondern in Luzern, in der Wohnung meiner Schwester. Und ich habe hier eine sehr wichtige Aufgabe zu erfüllen: Ich hüte [1] meine kleine Nichte. Sie ist inzwischen dreieinhalb Monate alt und zuckersüss. Da sie gerade schläft, nutze ich die Zeit, um zu arbeiten. Und darum geht es in der heutigen Sendung: Wir reden zuerst über die Stromproduktion in der Schweiz, danach erzähle ich Ihnen von einer Hochzeitsmesse und zum Schluss verrate ich Ihnen dann noch, weshalb ich Wiener Walzer liebe. Na? Sind Sie bereit? Dann legen wir los.
Vielleicht geht es Ihnen ähnlich wie mir, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Ich habe das Gefühl, alles ist im Umbruch [2]. Die Arabische Welt zittert und bebt, das Erdbeben in Japan stürzt das ganze Land, ja sogar die ganze Welt ins Chaos. Umbruch und Chaos sind zwar grundsätzlich nichts Schlechtes, denn oft kann daraus etwas Neues entstehen. So hoffe ich sehr, dass sich aus den Protesten und Demonstrationen in der Arabischen Welt etwas Gutes entwickelt. Und ich hoffe, dass Menschen auf der ganzen Welt aus der Naturkatastrophe in Japan etwas lernen: Dass die Natur immer stärker ist als wir. Und dass sie alles zerstören kann - selbst Atomkraftwerke, die nach den neusten Erkenntnissen der Wissenschaft gebaut worden sind und deshalb als absolut sicher gelten. Das vergessen wir nämlich immer wieder. Nur wenn irgendwo auf der Welt ein Unfall in einem Atomkraftwerk passiert, wenn etwas im Kraftwerk kaputt geht oder zerstört wird, erinnern wir uns daran, dass Atomkraftwerke eine zerbrechliche [3] Sache sind: Sie liefern uns einerseits einen grossen Teil des Stroms, den wir so dringend brauchen, andererseits können sie die Natur verseuchen und für sehr viele Menschen lebensgefährlich werden, falls etwas nicht mehr so funktioniert, wie es sollte. Müssen wir mit dieser Gefahr leben? Ja, wenn wir nicht andere Stromquellen finden.
Ich habe vor kurzem einen Beitrag über die Stromproduktion in der Schweiz geschrieben. Das war interessant, aber auch sehr ernüchternd [4]. 55 Prozent des Stroms in der Schweiz kommen zwar aus Wasserkraftwerken, 2 Prozent aus neuen Quellen wie Wind- und Sonnenkollektoren, aber 40 Prozent des Stroms ist Atomstrom. 40 Prozent. Das ist viel, sehr viel sogar. Und der Atomstrom ist der Teil des Stroms, der rund um die Uhr [5], während 24 Stunden am Tag produziert wird. Er garantiert, dass Züge, Busse, Trams und Strassenlampen immer funktionieren. Dass Spitäler, Restaurants und Hotels immer Strom haben. Dass medizinische Geräte, Staubsauger, Kühlschränke, Waschmaschinen oder Kochherde benutzt werden können, wenn man sie braucht. Dass wir Licht machen und mit warmem Wasser duschen können, wann wir wollen, und dass wir unsere Handys, Laptops, iPhones, iPads oder elektronischen Zahnbürsten aufladen [6] können, wann immer es nötig ist.
Dies einmal so klar und deutlich zu sehen, hat mich sehr beeindruckt, aber wie gesagt, auch desillusioniert. Denn was haben wir für eine Alternative, als weiterhin von Atomstrom abhängig zu sein [7]? Gerade auch, weil kaum jemand wirklich gewillt ist [8], Strom zu sparen. Wer, zum Beispiel, macht zu Hause nur die Lampen an, die wirklich nötig sind? Wer schaltet Computer und Fernseher ganz aus und nicht einfach auf den Stand-by Modus, der sehr viel Strom benötigt? Welche Firma ist bereit, nachts die Leuchtreklamen auszuschalten? Wer will an Weihnachten auf die Weihnachtsbeleuchtung verzichten? Sie sehen, liebe Zuhörer, das sind schwierige Fragen. Aber ich finde, es ist wichtig, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Vielleicht finden wir eines Tages Antworten darauf. Und vielleicht werden die uns dann weiterbringen.
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Aber kommen wir zu einem lustigeren Thema: Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, waren Sie jemals an einer Hochzeitsmesse? Ich bin mir nicht sicher, ob Hochzeitsmessen eine Schweizerische Erfindung sind, denn wir haben hierzulande fast für alles eine Messe [9]: Wir haben Landwirtschaftsmessen, Gartenmessen, Frühlingsmessen, Messen für Menschen, die ein Haus kaufen oder bauen wollen, und eben - auch Hochzeitsmessen. An Hochzeitsmessen findet man alles, was man zum Heiraten braucht: Da gibt es zum Beispiel Juweliere, die ihre Trauringe zeigen, Restaurants oder Catering-Firmen, die Hochzeitsmenüs anbieten, Hotels, die Suiten für Frischverheiratete [10] haben oder Fotografen, die demonstrieren, wie sie Braut und Bräutigam [11] ins richtige Licht setzen [12]. Es gibt Reisebüros, die ihre Arrangements für die Flitterwochen [13] präsentieren, Champagnerproduzenten, die die Besucher ihre Hochzeits-Champagner degustieren lassen, Bands, die sich für das Hochzeitsfest anpreisen [14] und, das ist ganz besonders wichtig, Modegeschäfte, die ihre schönsten Brautkleider ausstellen. Also, das ist ja alles toll - ich aber finde Hochzeitsmessen grauenvoll. Ich finde die präsentierten Sachen konventionell und bieder [15], zudem ist die Luft in den meisten Räumen schlecht. Das einzig Positive ist jeweils der Champagner, den man gratis degustieren kann. Sollte ich also jemals heiraten, würde ich um Hochzeitsmessen einen ganz grossen Bogen machen [16]. Ich gehe nur immer wieder auf Messen, um mich für potentielle Artikel inspirieren zu lassen.
Nun ist es aber so, dass viele Menschen Hochzeitsmessen lieben, sonst würde ja niemand auf die Idee kommen, solche Messen zu organisieren. Vor allem Frauen sind oft ganz verrückt danach. Wie meine Freundin Sibylle, zum Beispiel. Sibylle wird nächstes Jahr heiraten und schleppt ihren zukünftigen Ehemann gnadenlos von Hochzeitsmesse zu Hochzeitsmesse mit [17]. "Sibylle, sag mal, warum um Himmels Willen tust du euch das an?" fragte ich sie, als sie gerade wieder einmal an einer Hochzeitsmesse war und mit leuchtenden Augen davon erzählte. "Ich will halt einfach wissen, wie man heute Hochzeit feiern kann", sagte sie unschuldig. "Ich will nach dem Fest nicht das Gefühl haben, dass ich etwas verpasst habe." - "Ach, komm! Das glaube ich dir einfach nicht. Ihr wollt doch eine originelle Hochzeit, eine spezielle Feier, dafür findest du doch nichts an einer Messe." - "Doch, sicher!" - "Du lässt dir ja sogar das Hochzeitskleid nach eigenen Ideen schneidern [18]. Erzähl mir doch nicht so einen Blödsinn [19]!" - "Es ist kein Blödsinn", sagte Sibylle. "Ich gehe an die Messen, um meine eigenen Ideen für unsere Hochzeit mit dem zu vergleichen, was an den Messen präsentiert wird." - "Ja, und?" - Sibylle schaute mich an und schmunzelte: "Solange ich sehe, dass niemand anders die gleiche Idee hatte wie ich, weiss ich, dass meine Idee wirklich originell ist. Und um mir darüber ganz sicher zu sein, gehe ich eben bis kurz vor unserer Hochzeit von Messe zu Messe."
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Und jetzt zum Schluss noch dies, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer: Ich weiss, dass ich Ihnen immer wieder davon erzählt habe, was ich nicht mag. Wie der Stress in der Adventszeit, zum Beispiel, oder Skifahren oder Französisch. Aber es gibt natürlich auch sehr viele Dinge, die ich mag und auch sehr gerne tue. Ich werde ab sofort regelmässig darüber berichten. Und ich fange mit dem Wiener Walzer an. Ja, Sie haben richtig gehört: Wiener Walzer - und das in Zeiten von Sängerinnen wie Shakira und Lady Gaga. Ich weiss, Wiener Walzer ist vielleicht total altmodisch. Aber stellen Sie sich vor: Sie sind in einem grossen Saal mit einem wunderschönen Parkettboden. Sie tragen ein atemberaubendes [20] Kleid, Ihr Tanzpartner hat eben seinen Arm um Ihre Hüfte gelegt, die ersten Takte erklingen [21]. Die Töne sind rein, denn es spielt ein hervorragendes Symphonieorchester, und langsam, ganz langsam beginnt der Walzer und Sie fangen an, sich im Dreivierteltakt zu drehen. Es ist, als würden Sie über das Parkett schweben, die Musik und der Arm des Partners scheinen Sie zu tragen. Sie sind schwerelos [22] und spüren, wie ein Glück Sie erfüllt, an das Sie sich noch lange erinnern werden.
[1] hüten: aufpassen auf (meistens auf Babys oder Haustiere)
[2] der Umbruch: Wechsel zu etwas Neuem
[3] zerbrechlich: fragil
[4] ernüchternd: desillusionierend
[5] rund um die Uhr: den ganzen Tag lang, während 24 Stunden
[6] aufladen: mit Strom versorgen
[7] abhängig sein: nicht auskommen ohne etwas
[8] gewillt sein: wollen, bereit sein
[9] die Messe: Ausstellung, Exhibition
[10] die Frischverheirateten: neu verheiratet
[11] der Bräutigam: Mann, der heiratet
[12] ins richtige Licht setzen: inszenieren
[13] die Flitterwochen: Reise, die die Frischverheirateten nach der Hochzeit machen
[14] anpreisen: anbieten
[15] bieder: langweilig
[16] einen grossen Bogen machen um: einen Umweg machen
[17] mitschleppen: mitziehen, zwingen, mitzukommen
[18] schneidern lassen: ein Kleid machen lassen
[19] der Blödsinn: dummes Zeug
[20] atemberaubend: sehr schön
[21] erklingen: ertönen
[22] schwerelos: ohne Gewicht