Guten Tag, liebe Freundinnen und Freude, heute ist der 29. Oktober, herzlich willkommen zur Sendung "Typisch Helene". Ich hoffe, Sie hören es mir nicht an, aber ich bin im Moment total kaputt. Ich hatte nämlich gerade Besuch, und der war ziemlich chaotisch. Ich werde Ihnen gleich davon erzählen. Danach kommen wir zu einem meiner Lieblingsthemen, nämlich Menschen mit Kopfhörern [1], und zum Schluss verrate ich Ihnen noch, was mich am neuen Gotthardtunnel ganz besonders interessiert hat.
Es ist jetzt drei Uhr morgens, ich bin todmüde, aber habe noch keine Lust, schlafen zu gehen. Sie kennen das sicher: Man ist total fertig, aber gleichzeitig hellwach [2]. Genauso fühle ich mich jetzt. Es ist ein guter Zustand, um im Fernsehen noch einen billigen Horrorfilm zu sehen oder sich an den Computer zu setzen und zu schreiben. Und da im Moment nur intelligente Filme laufen, setze ich mich eben an den Computer.
Wie gerne hätte ich eine Webcam, damit ich Ihnen zeigen könnte, wie meine Wohnung jetzt aussieht. Es herrscht das totale Chaos: Hinter mir auf dem Salontisch [3] stehen acht Champagnergläser, acht Weissweingläser, eine Schale mit Pistazien und Oliven und drei leere Weinflaschen, dazwischen liegen zerknüllte [4] Papierservietten und unzählige Olivenkerne. Auf dem Tisch im Esszimmer klebt Kerzenwachs [5], auf dem Boden liegen ein Paar High Heels, meine Schuhe, im Hintergrund läuft noch die Musik von Buddah Bar, und in der Küche stapeln sich [6] Platzteller [7], Teller und Dessertschalen, Gabeln und Messer, Wasser- und Weingläser, schmutzige Pfannen, nasse Handtücher und irgendwo liegt noch ein Kochbuch mit Fettflecken. Was ist passiert? Ich hatte meine 14 Kolleginnen und Kollegen vom Arabischkurs zu Besuch. Wir lernen seit Jahren zusammen und treffen uns immer wieder einmal zu einem schönen, grossen Essen. Ich hatte einen Rindsbraten gekocht, der gefüllt war mit Peperoni, Zugetti, eine Art Gurke, und Rosinen, dazu habe ich Couscous und Hummus [8] serviert. Ich hatte schon gestern das Meiste vorbereitet und sogar den Tisch gedeckt, weil ich heute arbeiten musste und nicht in Zeitdruck kommen wollte. Aber genau das ist passiert!
Als ich heute Morgen auf die Redaktion kam, erfuhr ich, dass ich noch am selben Tag einen Text fertig schreiben musste. Ich bin total erschrocken. Ich hatte gedacht, der Abgabetermin [9] sei erst nächste Woche und hatte den Text noch gar nicht richtig angefangen zu schreiben. Ich habe also geschwitzt und geflucht [10] und den Text in Panik geschrieben. Ich habe ihn um halb sieben Uhr abgegeben, bin aufs Tram gerannt, von der Haltestelle nach Hause gespurtet [11], habe mich in einer Minute umgezogen [12] und wollte gerade mein zweites Auge schminken - dann läutete es an der Tür. Ich erstarrte! Die Gäste sollten frühestens um viertel nach sieben kommen, jetzt war aber erst sieben, und die ersten waren schon da. Fünf Minuten später läutete es wieder, und dann wieder und wieder. So ein Stress: Alle 14 Gäste sind zu früh gekommen. Zu früh zu erscheinen, ist eigentlich sehr unhöflich. Gäste sollten mindestens eine Viertelstunde zu spät kommen. Das ist zwar nicht typisch Schweizerisch, aber typisch für mich. Damit rechne [13] ich immer und verlasse mich auch darauf. Wer mich kennt, kommt sogar eine halbe Stunde zu spät. In diesen Minuten klopfte mein Herz so stark, dass ich Angst bekam. Was, wenn ich nun einen Herzinfarkt bekomme? Gott sei Dank, war einer meiner Freunde Arzt. Ein Magen-Darm-Spezialist zwar, aber der würde sicher auch bei einem Herzinfarkt erste Hilfe leisten können. Ich nahm ihn zur Seite: "Markus, kannst du mich wiederbeleben, falls ich jetzt zusammenbreche [14]?", fragte ich ihn leise. "Keine Sorge", flüsterte Markus zurück. "Im Reanimieren bin ich unglaublich gut! Du kannst also ruhig zusammenbrechen." Ob Ihrs glaubt, oder nicht, diese Antwort beruhigte mich so sehr, dass ich plötzlich alles viel lockerer nahm. Und das Beste war: Die Gäste hatten viel Spass an meinem Chaos. So konnten sie nämlich alle mithelfen, während ich im Bad gelassen [15] mein zweites Auge schminkte.
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Ich hoffe, ich habe Sie mit meinem Besuch nicht allzu sehr gestresst, liebe Freunde. So chaotisch und aufregend geht es bei mir nämlich nicht immer zu und her. Aber ich muss zugeben: Ich mag Chaos, ein bisschen zumindest, und ich mag es auch, Chaos und Rummel um mich herum zu sehen und zu hören. Und damit wären wir beim zweiten Thema: Der Ärger mit den Ipods, oder den Iphones, und den verschlossenen Ohren. Können Sie verstehen, warum heute so viele Menschen auf der Strasse, im Tram und im Zug Kopfhörer tragen und sich vom Leben abkapseln [16]? Viele meiner Freunde sagen, dass sie Kopfhörer tragen, weil sie nicht mithören wollen, was die Leute im Tram miteinander reden. Oder weil es sie nervt, wenn andere telefonieren. Oder weil sie erst mit der Lieblingsmusik im Ohr in der Öffentlichkeit ein bisschen Privatsphäre geniessen können. Ich kann diese Argumente ja nachvollziehen [17], aber wirklich verstehen tue ich sie nicht. Denn es sieht doch einfach komisch aus, wenn erwachsene Menschen im Businessanzug oder in Jeans und Lederjacke mit Kopfhörern herumlaufen. Ich finde, die sehen aus wie Comicfiguren. Ich kann die gar nicht richtig ernst nehmen. Zudem ist es ärgerlich, wenn ich neben einem Kopfhörer-Menschen im Tram sitze, und ich dann zwar seine Musik höre, aber er mich nicht hört, wenn ich ihn bitte, mir Platz zu machen, weil ich gleich aussteigen muss. Einmal musste ich einen Kopfhörer-Menschen sogar anschreien, damit er mich hörte. Das endetet dann damit, dass ich sehr wütend, und er sehr erschrocken war. Am schlimmsten finde ich aber, dass die Kopfhörer-Menschen nicht nur die anderen Menschen nicht hören, sondern auch Autos, Busse und Trams nicht wahrnehmen [18]. So geschieht es immer wieder, dass Kopfhörer-Menschen zwar im Rhythmus ihrer Musik über die Strasse gehen, dabei aber fast überfahren werden. Also, wenn die Schweiz einen einzigen Präsidenten hätte, und ich dieser Präsident wäre, würde ich Kopfhörer in der Öffentlichkeit verbieten. Was meinen Sie dazu? Verbieten oder nicht verbieten? Ich würde mich freuen, Ihre Meinung zu hören.
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Und nun zum Schluss noch dies: Seit zwei Wochen hat die Schweiz den längsten Tunnel der Welt. Der Gotthard-Basis-Tunnel führt 57 Kilometer lang unter den Alpen hindurch von Erstfeld im Kanton Uri bis nach Bodio im Kanton Tessin. Zum Teil lagern bis zu 2500 Meter Fels über dem Tunnel, was ihn auch zum tiefsten Eisenbahntunnel der Welt macht, der bisher gebaut worden ist. Dieser Tunnelbau zeigt, was Ingenieure heute alles realisieren können. Ich bewundere diese Ingenieure sehr und auch alle Mineure, die diese harte und schwere Arbeit ausgeführt [19] haben. Am meisten aber faszinierte mich Sissi, der Bohrer. Sissi ist nämlich nicht nur eine Maschine, sondern eine ganze Fabrik im Berg. Sie hat eine Länge von 450 Metern und ist damit länger als vier Fussballfelder. Ich habe mich dann natürlich gefragt, warum der Bohrer ausgerechnet Sissi heisst. Sissi war ja eine österreichische Kaiserin. Und darin liegt auch die Antwort: Man nannte die Maschine Sissi, weil viele Österreicher sie bedienten, und weil der erste Mensch, der durch den neuen Tunnel ging, ebenfalls ein Österreicher war. Der Bohrer Sissi symbolisiert für mich nun also zwei Sachen: Schweizer brauchen Ausländer, wenn sie die ganz grossen Projekte machen wollen. Und um die schliesslich auch umzusetzen [20], braucht es - Frauen.
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Das wars für heute, liebe Freundinnen und Freunde. Das nächste Mal verrate ich Ihnen, warum mich die frühe Weihnachtsdekoration in den Geschäften so nervt, und warum man in der Schweiz pünktlich sein sollte. Wir hören uns dann also wieder am 12. November auf www.podclub.ch. Bis dahin wünsche ich Ihnen eine schöne Zeit. Auf Wiederhören.
[1] der Kopfhörer: kleine Hörer für Ohr, die man ans Ipod anschliessen kann
[2] hellwach: sehr wach
[3] der Salontisch: kleiner Tisch vor dem Sofa
[4] zerknüllen: ganz klein machen
[5] der Kerzenwachs: Tropfen von der Kerze
[6] sich stapeln: aufeinander liegen
[7] der Platzteller: Dekorationsteller
[8] der Hummus: orientalische Crème aus Kichererbsen
[9] der Abgabetermin: Zeit, zu der man etwas fertig machen muss
[10] fluchen: schimpfen
[11] spurten: sehr schnell rennen
[12] umziehen: Kleider wechseln
[13] damit rechnen: vertrauen auf
[14] zusammenbrechen: total kaputt sein, kollabieren
[15] gelassen: in Ruhe, ruhig
[16] sich abkapseln: sich verschliessen vor etwas
[17] nachvollziehen: begreifen, verstehen
[18] wahrnehmen: realisieren, spüren
[19] ausführen: machen, tun
[20] umsetzen: realisieren