Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung «Andrea erzählt» vom 18. Juli 2014. In den Schweizer Bergen gibt es viele geheimnisvolle Orte. Aber wussten Sie, dass es diese auch dort gibt, wo ganz viele Menschen leben? Ein ganz besonders schöner und geheimnisvoller Ort ist nahe bei der Stadt Solothurn [1].
Wenn man von dort ein Bisschen zu Fuss geht, ist man plötzlich bei einem kühlen kleinen Bach. Das grüne Tal, durch das der Bach fliesst, heisst Verenaschlucht [2].
Wenn man ihr folgt, kommt man im Norden zu einem wirklich verzauberten Ort. Dort hat es eine Grotte. Das ist eine Art offene Höhle. In sie hinein ist eine kleine Kapelle [3] gebaut. Sie hiesst Verena Kapelle und gehört der heiligen Verena. Ich werde Ihnen gleich mehr über diese Frau erzählen.
Neben der Grotte hat es eine kleine Kirche und ein winziges Haus. Verenaschlucht Verenakapelle (c) wikimediaHier lebt ein Einsiedler [4], also ein Mensch, der ganz alleine lebt. Das Ungewöhnliche an diesem Einsiedler ist, dass ihn immer viele Leute besuchen, weil der Ort so schön ist. Ab 2009 wohnte hier sogar zum ersten Mal eine Frau! Im Moment wird gerade wieder jemand Neues gesucht und man liest immer mal wieder in der Zeitung davon. Aus diesem Grund erzähle ich Ihnen heute die «Geschichte von der Verenaschlucht». Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!
***
Vor vielen hundert Jahren lebte in Theben [5] in Ägypten einmal ein Mädchen. Es hiess Verena und war Christin. Seine Eltern waren reich. Obwohl Verena ein Mädchen war, sagten sie: «Wir schicken dich zu dem berühmten Bischof [6] Chaeremon von Nilopolis. Er wird dir alles erzählen, was eine Christin wissen muss.» Doch der Bischof war schon sehr alt. Und als Verena eine junge Frau war, starb er.
Da ging Verena zusammen mit anderen Christen nach Unterägypten. Dort gründete der römische Kaiser Maximillian die so genannte Thebäische Legion. Das war eine Armee, die für das Christentum kämpfen sollte. Anführer der Thebäischen Legion war Verenas Cousin Mauritius. Auch ihr Verlobter [7] Viktor gehörte dazu. Darum ging Verena mit der Thebäischen Legion mit nach Mailand. Dort blieb sie viele Jahre lang und pflegte kranke Menschen. Die Thebäische Legion ging in dieser Zeit weiter nach Frankreich, um zu kämpfen.
Eines Tages hörte Verena, dass die Soldaten der Thebäischen Legion getötet worden seien, auch Viktor. Da ging sie sofort nach Frankreich und beerdigte alle Soldaten auf christliche Art. Danach reiste sie weiter in die Schweiz nach Solothurn. Auch hier herrschten [8] zu jener Zeit die Römer.
In Solothurn lebte Verena in einer Grotte. Dort betete sie den ganzen Tag und sang heilige Lieder. Damit sie zu Essen hatte, machte sie kleine Handarbeiten [9] und verkaufte sie. Schon bald sagten die Menschen in Solothurn: «In der Grotte lebt eine ganz besondere Frau. Sie kann kranke Menschen gesund machen und gibt den Armen zu Essen.» So kamen immer mehr Menschen zu ihr, vor allem Blinde [10] und Lahme [11]. Sie half allen.
Man sagt, dass wegen Verena sehr viele von ihnen Christen geworden seien. Mit der Zeit war Verena nicht mehr allein. Mit ihr lebten auch viele andere junge Frauen, die ihr mit den Kranken und Armen halfen. Schon bald hörte der römische Herrscher von Solothurn von Verena. Er hiess Hirtacus und war ein sehr böser Mann. Er sagte: «Ich will nicht, dass diese Frau da hinten in der Grotte lebt. Sie erzählt allen von ihrem falschen Gott [12]. Sperrt sie ein [13]!»
Im Gefängnis hatte Verena eine Erscheinung. Das ist eine Art Traum, den man hat, wenn man wach ist. Sie sah einen jungen Mann. Er sagte zu ihr: «Ich bin dein Cousin Mauritius. Du musst keine Angst haben. Gott ist bei dir.» Dann war er schon wieder weg.
Ein paar Tage später wurde Hirtacus sehr krank. Er befahl: «Bringt mir die Frau aus dem Gefängnis! Sie soll mich gesund machen!» Verena kam und machte ihn wirklich wieder gesund. Da sagte Hirtacus: «Gut, du bist wieder frei. Du darfst zurück in deine Grotte gehen.»
****
Mit der Zeit passierten Verena immer mehr ungewöhnliche Dinge. Einmal hatte sie kein Geld und kein Brot mehr für all die armen und kranken Menschen. Da betete sie zu Gott und schon am nächsten Morgen standen 40 Säcke Mehl vor der Grotte. Als Verena und die anderen jungen Frauen davon assen, kam immer neues Mehl aus ihren Zähnen. Nun gab es genug zu Essen für alle.
Weil Verena so viel Gutes tat, kamen mehr und mehr Menschen zu ihr. Eines Tages sagte sie: «Ich brauche wieder mehr Ruhe, um zu beten und an Gott zu denken.» So zog sie auf eine Insel in der Nähe von Koblenz. Auf dieser Insel leben viele hundert Schlangen. Verena betete und alle Schlangen gingen ins Wasser und starben. Nun konnte sie ohne Gefahr dort leben.
Aber schon bald merkten die Menschen, dass Verena auf der Insel war. Und wieder kamen alle Kranken zu ihr. Einmal kam eine arme Frau mit ihrem kranken Sohn. Sie legte ihn vor Verenas Füsse und rief: «Bitte, liebe Verena, hilf meinem Kind. Es kann nicht sehen und es kann nicht gehen.» Da legte Verena sich zu dem Kind auf den Boden und breitete ihre Arme aus. Sie sah aus wie ein Kreuz. Sofort öffnete das Kind seine Augen und stand auf. Es war ganz gesund!
Nach ein paar Jahren zog Verena wieder weiter. Diesmal ging sie nach Zurzach. An diesem Ort kommt heilendes [14] Wasser aus dem Boden. Das ist heute noch so und viele Kranke gehen dort hin. Schon damals kamen sehr viele Menschen mit Sorgen und Krankheiten nach Zurzach. Verena half allen von ihnen. Darum hatten sie alle gern. Ausser einem, der war sehr neidisch [15] auf sie. Es war der Knecht [16] des Pfarrers. Er sagte zu sich: «Ich werde schon einen Fehler bei ihr finden. Dann lieben die Menschen sie nicht mehr und ich bin wieder allein mit dem Pfarrer. Nachher haben wir endlich wieder unsere Ruhe.»
Bald merkte der Knecht, dass Verena heimlich im Keller des Pfarrers Wein holte und ihn den Kranken gab. Er erzählte das dem Pfarrer. Der wollte herausfinden, ob das stimmte. Er wartete, bis Verena wieder mit einer vollen Flasche aus dem Keller kam und sagte: «Ich habe gehört, dass du von meinem Wein stielst. Zeig mir die Flasche!» Aber als der Pfarrer in die Flasche schaute, war plötzlich nur noch Wasser drin.
Doch der Knecht gab nicht auf [17]. Er hörte schon bald, wie der Pfarrer zu Verena sagte: «Bitte pass für mich auf diesen goldenen Ring auf.» Da ging der Knecht in Verenas Zimmer und nahm den Ring. Er warf ihn in den Fluss und sagte zufrieden: «So, nun wird der Pfarrer denken, dass Verena ihn gestohlen hat. Dann schickt er sie endlich fort.» Doch schon bald kam ein Fischer und brachte dem Pfarrer einen Fisch. Als der ihn ass, fand er in seinem Bauch den gestohlen Ring. Gott hatte Verena auch dieses Mal geholfen.
Nach Verenas Tod wurde sie schon bald zu einer der beliebtesten Heiligen der Schweiz. Das ist sie bis heute geblieben. Über ihrem Grab in Zurzach steht heute das Verenamünster.
***
Ich bin nicht sehr religiös, aber dennoch gefallen mir die Geschichten über die Heiligen. Vieles davon kann man nicht beweisen, aber sie haben immer einen wahren Teil.
In der Grotte in der Verenaschlucht spürt man die Geschichte und die vielen Jahrhunderte besonders gut – und auch die vielen Menschen, die alle schon hier waren. Für mich ist die Verenaschlucht mit der Grotte darum einer der zauberhaftesten Orte der Schweiz. Sie sollten wirklich mal hinfahren! Am besten bei schlechtem Wetter. Dann hat es nicht so viele Leute und der Zauber gehört Ihnen ganz allein.
So, und nun wünsche ich Ihnen eine schöne Sommerpause. Wir hören uns erst am 29. August wieder. Bis dahin habe ich sicher viel Neues über meine Freundin Joanne zu erzählen.
Es würde mich darum sehr freuen, wenn Sie auch dann wieder auf www.podclub.ch mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt».
Auf Wiederhören!
[1] Solothurn: sehr alte Schweizer Stadt im Mittelland zwischen Bern und basel
[2] Verenaschlucht: hier finden Sie die Wegbeschreibung
[3] Kapelle (die): kleine Kirche
[4] Hier finden Sie noch mehr Informationen zur Einsiedelei in der Verenaschlucht
[5] Theben: altägyptische Stadt in Oberägypten
[6] Bischof (der): hoher Geistlicher der christlichen Kirche
[7] Verlobter (der): Mann, der einer bestimmten Frau versprochen hat, dass er sie heiraten wird
[8] herrschen: regieren
[9] Handarbeit (die): Näharbeit oder Arbeit aus Wolle, wie zum Beispiel Kleider, Decken etc.
[10] Blinder (der): Mensch, der nicht sehen kann
[11] Lahmer (der): Mensch, der einen Teil oder sogar den ganzen Körper nicht bewegen kann
[12] falscher Gott: hier gemeint als der christliche Gott, da die Römer damals zu grossen Teilen noch an die römischen Götter glaubten
[13] einsperren: ins Gefängnis, einen Käfig oder sonst einen abgeschlossenen Raum bringen
[14] heilend: gesund machend (hier gemeint: Thermalwasser)
[15] neidisch: eifersüchtig, missgünstig
[16] Knecht (der): Diener, Helfer für schwere Arbeiten mit Tieren, Holz oder auf dem Feld und im Garten
[17] aufgeben: resignieren, nicht mehr weitermachen