Die "Spanische Grippe" forderte weit mehr Tote als der gleichzeitig wütende Erste Weltkrieg. Am 22. Mai 1918 berichtete das spanische Blatt "El Sol" zum ersten Mal über die weltweit grassierende Seuche.
Manchmal geht es im Leben wirklich ungerecht zu. Da ist man ehrlich, viel ehrlicher als die anderen. Und dann bleibt der schlechte Namen an einem selber hängen. So ging es auch der "Spanischen Grippe". Am 22. Mai 1918 machte sie das erste Mal Schlagzeilen. In Spanien. "El Sol", eine Madrider Zeitung, berichtete über das massenhafte Auftreten einer rätselhaften, bedrohlichen Krankheit, an der auch der spanische König, Alfons der Dreizehnte, erkrankte. Und so verbreitete sich in der übrigen Welt die irrige Annahme, dass diese Krankheit in Spanien entstanden war und dort auch schlimmer wütete als anderswo.
Weit gefehlt. Anderswo wurde nur nicht darüber geschrieben. Jedenfalls nicht in offiziellen Zeitungsberichten. Wer aber ein wenig über das Tagesgeschehen und das Feuilleton hinwegblätterte, dorthin, wo die Todesanzeigen in endlos langen Reihen standen, dem dämmerte, dass die unheimliche Epidemie schon längst im eigenen Land angekommen war. Nur, dass anders als in Spanien darüber nicht berichtet wurde. Denn die Welt befand sich in einem zermürbenden Krieg, der nun schon das vierte Jahr dauerte. Nachrichten, die das Durchhaltevermögen der beteiligten Völker gefährden konnten, wurden unterdrückt. So wurde auch über die Influenza geschwiegen, die Zensur gebot es. Spanien hingegen war im Ersten Weltkrieg neutral geblieben und konnte daher unbefangener berichten. Und das ließ nun den Rest der Welt glauben, die Seuche stamme von der Iberischen Halbinsel.
Dabei war sie vermutlich im März 1918 in Kansas, in den Vereinigten Staaten, ausgebrochen, war mit Truppen auf den europäischen Kontinent gelangt, wo sie sich in ganz Europa rasch ausbreitete, und im Juni wurden Epidemien aus China, Australien, Neuseeland und Indien gemeldet. In wenigen Wochen hatte das Virus alle Winkel des Erdballs erreicht, dank der enorm gestiegenen Mobilität des modernen Menschen. Die Erkrankung begann mit Fieber, Husten, Kopf- und Gliederschmerzen und endete für viele mit einer tödlichen Lungenentzündung. Am schlimmsten betroffen waren nicht, wie sonst bei Infektionskrankheiten, die ganz Alten und die ganz Jungen.
Dahingerafft wurden vor allem die Zwanzig- bis Vierzigjährigen. Auffällig auch, dass viele schwangere Frauen die Infektion nicht überlebten.
Kein Land blieb verschont. Die Zahlen sind erschütternd: Zwischen 25 und 70 Millionen Toten schwanken die Schätzungen, weit mehr als die 17 Millionen Menschen, die im Krieg umgekommen waren.
Ein Schicksal, stellvertretend für die unfassbaren Millionen. Im Oktober 1918 hatte das Virus die Stadt Wien erreicht. Hier bangte der Maler Egon Schiele um seine hochschwangere Frau Edith und sein ungeborenes Kind. Als ihr Fieber immer höher, ihre Atemnot immer schlimmer wurde, griff Schiele zur Kreide und zeichnete ein Porträt der Sterbenden. Es war seine letzte Zeichnung. Kaum hatte er Edith zu Grabe getragen, legte er sich mit Schüttelfrost zu Bett. Drei Tage nach seiner Frau wurde auch er ein Opfer der "Spanischen Grippe".