Vaclav Havel ertrug Schikanen, Verhöre und Gefängnis in einer sozialistischen Tschechoslowakei. Trotzdem wurde er 1989 zum großen Hoffnungsträger für einen demokratischen Neuanfang. Am 9. Mai 1991 erhielt er den Karlspreis.
Der schmächtige Mann auf dem Balkon ist kaum zu sehen. Es ist dunkel, und nur der Prager Wenzelsplatz unter ihm ist hell erleuchtet. Zehntausende Menschen stehen dort. Wie jeden Abend in jenen kalten November- und Dezembertagen 1989 haben sie sich versammelt, um mit ihren Schlüsselbunden das Regime wegzuklirren und den Mann oben auf dem Balkon an die Macht zu schreien. "Lang lebe Havel!" skandieren sie und: "Havel auf die Burg!" Der Mann auf dem Balkon, der jahrzehntelang verfemt war, der verfolgt wurde und den all jene mieden, die nichts mit der Staatssicherheit zu tun haben wollten - er sollte nun zum offiziellen Repräsentanten einer neuen demokratischen Tschechoslowakei werden.
Versuch, in der Wahrheit zu leben
Václav Havel kam 1936 als Kind reicher Eltern zur Welt. Zwölf Jahre später brachte die kommunistische Umwälzung ihm und seinen Eltern die typischen Diskriminierungen, die jeder Bourgois in einem kommunistischen System erfahren musste: Enteignung und keinen Zugang zu einem höheren Bildungsweg. So wurde er zuerst Chemielaborant. Erst Jahre später durfte er ein Fernstudium der Dramaturgie aufnehmen und abschließen. Da hatte er schon längst seine ersten Theaterstücke geschrieben, in denen er die Absurditäten des real existierenden Sozialismus auf die Spitze trieb.
Als er sich immer häufiger als scharfer Kritiker des Systems zu erkennen gab, der seine Meinung auf Kongressen, Protestaktionen und in offenen Briefen kundtat, reagierte das Regime. Seine Forderung nach mehr Demokratie wurde mit Publikationsverbot beantwortet, sein Prinzip, nicht in den Chor der Ideologen einzustimmen, mit Ächtung und Schikanen. Doch Václav Havel ließ sich nicht einschüchtern. Er wurde zum prominentesten Wortführer der nichtkommunistischen Intellektuellen und Mitbegründer der Menschen- und Bürgerrechtsbewegung "Charta 77". Es folgte die erste Verhaftung, Verhöre und eine Verurteilung. "Subversive, staatsfeindliche Aktivitäten" - so nannte es das Regime. "Ein Versuch, in der Wahrheit zu leben" - so nannte es Václav Havel.
Verborgene Macht der Machtlosen
Mit jeder Verhaftung und jedem Verhör wuchs dem Dissidenten immer mehr die Rolle einer moralischen Instanz zu, die international respektiert wurde. Dieses internationale Renommee schützte ihn vor der allerschlimmsten Willkür. Ertragen musste er jedoch die Schikanen, die Verhöre und das Gefängnis ganz alleine.
Trotzdem siegte schließlich die verborgene Macht der Machtlosen in einem repressiven System und ging in etwas Sichtbares über - in die Ansammlung von Zehntausenden Menschen auf dem Wenzelsplatz, die Václav Havel 1989 auf dem Balkon zujubelten. Havel verließ den Balkon und ging auf die Burg, wo er dreizehn Jahre lang als Staatspräsident über den Weg einer neuen Demokratie wachte. Am 9. Mai 1991 erhielt er in Aachen den renommierten Karlspreis in Würdigung "seines Einsatzes für den Geist der Freiheit und die Verwirklichung des Friedens in seinem Lande", wie es in der Begründung hieß.
Aber dessen ungeachtet hatte er immer noch zahlreiche Kritiker. Denn auch als Staatsoberhaupt war er der unbequeme Intellektuelle, der sich nicht hinter Floskeln versteckte. Sein schärfster Kritiker aber blieb wohl er selbst. Er erscheine immer fragwürdiger, auch sich selbst gegenüber, sagte er gegen Ende seiner Amtszeit als Präsident der Tschechischen Republik. Die Zeit der Ideale war für ihn vorbei. Im Dezember 2011 ist er gestorben.