Friedrich Rückert dichtete manisch, doch sein großes Verdienst ist es, die Deutschen mit Texten aus dem Arabischen und dem Sanskrit bekannt gemacht zu haben. Am 16. Mai 1788 wurde der Orientalist geboren.
Zu Beginn eine Quizfrage: Von wem ist das Gedicht, das folgendermaßen anfängt?
"Es ging ein Mann im Syrerland,
Führt' ein Kamel am Halfterband.
Das Tier mit grimmigen Gebärden
Urplötzlich anfing, scheu zu werden,
Und tat so ganz entsetzlich schnaufen,
Der Führer vor ihm musst' entlaufen."
Nein, das ist zu schwer. Wenn man es nicht zufällig kennt, kommt man nie und nimmer drauf. Möglicherweise würde man als Verfasser den alten Herrn annehmen, der grundsätzlich bei jeder Betriebsweihnachtsfeier etwas zum Besten gibt - beziehungsweise in diesem Fall beim 25jährigen Berufsjubiläum eines Zoodirektors, der sich zu Beginn seiner Laufbahn ein wenig schwer tat beim Umgang mit lebenden Tieren. Aber nein, nein, nein - diese Zeilen stammen mitnichten aus der Feder eines Dilettanten; zu Papier gebracht hat sie kein geringerer als Friedrich Rückert.
Sprachgenie
Friedrich Rückert, geboren am 16. Mai 1788, war ein Phänomen. Er war Professor für orientalische Sprachen und Literaturen, erst an der Universität Erlangen, später in Berlin; zurecht gilt er als einer der Begründer der deutschen Orientalistik, vor allem aber: er war irr-wit-zig sprachbegabt. Er konnte Sanskrit, Malaiisch und Tamil, Arabisch und Persisch, Armenisch und Koptisch sowie rund vierzig weitere Sprachen. Neben vielem anderen übersetzte er - zumindest teilweise - den Koran ins Deutsche, aus dem Sanskrit übertrug er das große Gedicht über die Liebesabenteuer des Gottes Krishna, das Gitagovinda, er dichtete eines der beiden großen indischen Epen nach, das rund hunderttausend Doppelverse lange Mahabharata, und unter dem Titel "Weisheit des Brahmanen" brachte er eine in erster Linie von indischem Gedankengut angeregte Gedichtsammlung heraus.
"Was mir die Mus´ eingab ..."
Rückert dichtete schier manisch - und er dichtete in jeder Lebenslage. In jungen Jahren rief er mit seinen "Geharnischten Sonetten" zum Kampf gegen Napoleon auf, und als in seinen reifen Jahren kurz nacheinander zwei seiner damals sechs Kinder starben, schrieb er die "Kindertotenlieder" - das waren nicht weniger als 428 Gedichte. Der Schriftsteller Hans Wollschläger sprach einmal von ihnen als von der "größten Totenklage der Weltliteratur". Allerdings: Von durchgehend hoher literarischer Qualität sind Rückerts Gedichte nicht. Es ist kein Zufall, dass man den Gelehrten gelegentlich den "Patriarchen der biedermännischen Hauspoesie" nannte.
Friedrich Rückert kannte seine Defizite selbst am besten. "Kaum hat, was mir die Mus' eingab, die Gemüther berühret", sagte er einmal etwas resigniert über seine Lyrik.
Trotzdem: Der Vergleich mit dem Verfasser der Betriebsweihnachtsfeier-Verse war unfair. Den hat Rückert nicht verdient. Tatsache ist vielmehr, was die Orientalistin Annemarie Schimmel einmal über ihn sagte. Er habe, meinte sie, mit seinem Werk, der deutschen Sprache einen Schatz geschenkt, den keine andere Sprache besitzt.