Schon Zeitgenossen sahen in Michelangelos "Pietà" ein geradezu perfektes Kunstwerk. Eine gefährliche Diagnose, die auch Exzentriker anzieht. Am 21. Mai 1972 schlug ein Attentäter mit dem Hammer auf die Marmorskulptur ein.
Schuld soll natürlich einzig und allein der Täter gewesen sein, ein arroganter, völlig durchgeknallter Narziss, der unbedingt ein großes Kunstwerk zerstören wollte und sich dabei auch noch filmen ließ. Nein, schuld an Untaten sind nicht immer die Täter allein, wie jeder Krimi-Fan weiß. Vielleicht war in diesem Fall auch der Künstler schuld, denn hätte er nicht derart genial gearbeitet, wäre der irre Vandale niemals auf sein Wunderwerk aufmerksam geworden. Und Genies sind ja immer auch irgendwie in Schuld und Schicksal verwickelt, wie nun wieder der Shakespeare-Fan weiß oder jeder beliebige Psychiater.
Ein kaum bekannter Bildhauer
Alles Quatsch. Der wahre Schuldige heißt Jean de Villiers de la Grolaye. Er war Abt von Saint Denis in Paris und Kardinal und lebte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als Botschafter des Königs von Frankreich am päpstlichen Hof. 1497 bestellte er bei einem jungen, noch kaum bekannten Bildhauer eine lebensgroße Statue für sein Grabmal, die - so hoffte Grolaye - schöner ist als alle bisherigen Kunstwerke aus Marmor.
Michelangelo Buonarroti, so hieß das fünfundzwanzigjährige Nachwuchstalent aus der Provinz Arezzo, arbeitete jedenfalls zwei Jahre lang wie besessen und schlug aus einem einzigen Block Carrara-Marmor eine lebensgroße Madonna mit dem toten Sohn auf dem Schoß heraus. Der Hofmaler der Medici Giorgio Vasari urteilte über sie, kein Bildhauer dürfe auch nur daran denken, sich an Anmut und Feinheit der Darstellung jemals mit Michelangelo messen zu können, denn hier finde man alles, was die Kunst vermag und leisten kann.
Nach zwei Jahren war das einzigartige Werk fertig und der Kardinal de la Grolaye tot. Doch das Böse schläft nicht. Fast ein halbes Jahrtausend war vergangen und die weltberühmte Pietà längst in den neuen Petersdom umgesiedelt, da zog am 21. Mai 1972 nach der Papstmesse ein bärtiger, exzentrisch aussehender Mann einen Hammer aus seinem Regenmantel und hieb mit wuchtigen Schlägen auf die Skulptur ein. Die Schmerzensmutter verlor einen Arm, erlitt einen Nasenbeinbruch, Schrammen und Risse am Auge und am Schädel. Kirchenbesucher stürzten sich auf den Attentäter, Panik brach aus, manche glaubten an einen Terroranschlag der Roten Brigaden. Papst Paul VI. schickte der verstümmelten Pietà einen Strauß Rosen und lies sie mit einem purpurnen Tuch verhüllen, bevor sie zu der - zum Glück famos gelungenen - Restaurierung gebracht wurde. Das Domkapitel sang das "Miserere", und der Starbildhauer Giacomo Manzù forderte unter Tränen die Todesstrafe für den vierunddreißigjährigen Hammer-Attentäter Laszlo Toth, einen in Australien lebenden Exilungarn.
Ein Ungar als auferstandener Jesus
Die Hinrichtung blieb dem Kunstvandalen erspart, er kam in die Psychiatrie und wurde drei Jahre später aus Italien ausgewiesen. Dabei entbehrte seine Begründung für den Anschlag nicht einer gewissen Logik: Er hielt sich nämlich für den auferstandenen Jesus, und wenn Jesus am Leben ist, stellt eine Pietà mit dem toten Gekreuzigten eine Verkehrung der Wirklichkeit dar, die zu beseitigen ist. Auch deshalb, weil die Kirche, so Laszlo Toth, mit dieser bewussten Falschinformation ihre Existenz sichern will; einen lebenden Christus könne sie nicht verkraften.
Hört sich gar nicht sooo verrückt an. Laszlo beziehungsweise der zurückgekehrte Jesus hätte seine Theorie gern seinem irdischen Stellvertreter Paul VI. vorgetragen, doch der beantwortete seine Briefe nicht und wollte ihn auch nicht in Castel Gandolfo empfangen.