Mary Smith Jones, geboren am 14. Mai 1918, war die letzte Sprecherin des Eyak, der Sprache des gleichnamigen Indianerstammes im Süden Alaskas. Eigentlich hieß sie "Klang, der die Menschen von weit her ruft".
Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott. Aber irgendwann gab er es den Menschen, und sie begannen, sich kraft des Wortes miteinander auszutauschen und Pläne zu machen. Sie sprachen alle dieselbe Sprache, damals. Wie herrlich einfach muss das Leben da gewesen sein, ein Leben ohne Vokabelhefte und ohne Missverständnisse! Doch Gott hatte an dem, was beim Plänemachen herauskam, oft seine Zweifel. Immer wieder versuchte er, die Menschen zur Vernunft zu bringen: erst mit der Vertreibung aus dem Paradies, dann mit einer Sintflut. Aber sie ließen sich nicht aufhalten. Und als sie sich darauf verständigten, einen Turm zu bauen, der an Gottes Himmelshöhen kratzen sollte, da schritt er zum Äußersten. "Wohlauf", sagte er, "lasset uns hernieder fahren und ihre Sprache daselbst verwirren, dass keiner des anderen Sprache verstehe."
Udach' Kuqax*a'a'ch
Von nun an mussten sie um Verständigung ringen. Tausende Sprachen und Dialekte zersprengten die Menschheit in kleine Grüppchen. Wie viele es waren und sind: Auch darüber herrscht Verwirrung. Aber täglich werden es weniger. Denn die Menschen wollten sich ihr wichtigstes Werkzeug nicht nehmen lassen, und seit der Babelkatastrophe arbeiten sie daran, die Sprachbarrieren niederzureißen. Dass die Ausdrucksvielfalt auch ein Geschenk des Himmels sein könnte, daran dachten sie weniger.
Für die Beseitigung der Hindernisse gibt es grundsätzlich zwei Methoden. Die eine ist, sich Wortschatz und Grammatik anderer zu eigen zu machen. Das bringt den Vorteil, dass man damit auch eine ganze Menge über das Wesen der Sprecher lernen kann, ist aber mit viel Arbeit verbunden. Die zweite Methode ist, den anderen kurzerhand die eigene Sprache überzustülpen - tausendfach angewandt von Mehrheiten, die Minderheiten ihr Wort diktieren. Zugegeben: Das erleichtert die Kommunikation. Doch eine Sprache nach der anderen verstummt damit auf immer.
Am 14. Mai 1918 kam im Süden Alaskas ein Mädchen zu Welt, das auf den Namen hörte: Udach' Kuqax*a'a'ch - so ähnlich jedenfalls scheint es geklungen zu haben und heißt: "Klang, der die Menschen von weit her ruft"; und weil diesen Namen schon fast niemand mehr aussprechen konnte, bekam sie noch einen, der ihrer Umgebung leichter von der Zunge ging: Mary Smith Jones. Damals wusste sie freilich nicht, dass sie einmal die letzte Sprecherin ihrer Sprache sein würde. Aber schon bei ihrer Geburt stand es in den Sternen. Denn der Indianerstamm, in den sie hineingeboren wurde, bestand nur noch aus wenigen Menschen. Benachbarte, größere Stämme hatten ihn bedrängt; die industrielle Fischzucht hatte ihn von seinen Fischgründen abgeschnitten. Alkohol, Opium und die Grippeepidemie in Marys Geburtsjahr hatten ihm den Rest gegeben. Der Stamm der Eyak war so gut wie ausgestorben.
Letzte Zeugen
Um ein Haar wäre es seiner Sprache ebenso ergangen wie unzähligen zuvor: Sie wäre unbemerkt von der Erdoberfläche verschwunden, ohne einen Sterbenslaut. Doch Mary Smith Jones nahm das nicht einfach hin. Als 1993 ihre Schwester starb, ihr einziger Gesprächspartner in Eyak, da sorgte sie dafür, dass ihrer Muttersprache wenigstens ein Denkmal gesetzt würde. Sie, der "Klang, der die Menschen von weit her ruft", machte einen Linguisten der Universität Alaska auf sich aufmerksam. Zusammen mit ihm sorgte sie dafür, dass ihre Sprache der Nachwelt überliefert bleibt: Ein Wörterbuch und eine Grammatik zeugen nun schwarz auf weiß von ihrer Existenz. Freilich konnten die beiden nur noch Buchstaben retten. Die gesprochene Sprache starb mit Mary Smith Jones im Jahr 2008.
Ihren neun Kindern hatte sie Englisch beigebracht, in der Überzeugung, das sei nützlicher für sie. Als sie es sich anders überlegte, war es zu spät. Abgewandt hätte sie den Tod ihrer Sprache auch damit nicht mehr, nur um eine Generation verschoben.