Der Chemiker Marggraf staunte, als er 1774 Zucker in der Runkelrübe fand - der erste Schritt zur Kultivierung der Zuckerrübe in Preußen. Am 8. Mai 1904 eröffnete in Berlin das erste Zuckermuseum der Welt.
Jedes Jahr im Oktober oder November, wenn die Tage wieder kürzer werden, schleichen sich in schwäbischen Dörfern Kinder im Schutz der kühlen Nacht auf die Felder hinaus. Bepackt mit einer Umhängetasche und einer kleinen Gartenschaufel machen sie sich ans Werk und buddeln aus dem feucht-klammen Erdreich weiße Zuckerrüben aus. Alles ganz leise, still und heimlich, damit nur ja der Bauer nichts davon mitbekommt, denn sie wollen die Zuckerrüben ja stehlen. Wie jedes Jahr im Herbst. Zurück zu Hause wird im Keller oder in der Garage eine große Plastikplane ausgebreitet, Messer und Löffel bereitgelegt und dann geht‘s los, das Rübengeistschnitzen. Eine mühselige, laute Arbeit, das Fleisch ist kalt, hart und faserig, es dauert lang, bis die knorrigen Rüben ausgehöhlt sind und mit dem scharfen Messer eine Fratze geschnitzt ist. Zwischendurch landet der eine oder andere Rübenschnitz im Mund der Kinder. Er schmeckt süßlich-herb. Keiner kann sich in diesem Moment vorstellen, dass aus diesen Rüben Würfelzucker hergestellt wird - aber darum geht es bei den Rübengeistern ja auch nicht.
Ein seltsames weißes Salz
Nach ein, zwei Stunden konzentrierter Arbeit stellen die Schnitzer mit klebrigen Fingern ein Teelicht in die Rübe. Dann werden die Geister im Schutz der Dunkelheit vor die Haustür der Nachbarn gestellt. Kerzen an. Klingeln und weglaufen. Gespanntes Warten im Gebüsch, das Herz klopft bis zum Hals. Wenn die Haustüre wieder verschlossen wird, geht‘s zurück zum Rübengeist. Hoffentlich liegen jetzt ein paar Gutzles, also Süßigkeiten, daneben.
Dass er mit seinen Experimenten irgendwann einmal Kindern Freude machen würde, das geht dem Chemiker Andreas Sigismund Marggraf sicher nicht durch den Kopf, als er im Jahr 1747 unterschiedliche Pflanzensäfte untersucht. In den Wurzeln des weißen Mangolds und der roten Runkelrübe findet er ein seltsames, weißes "Salz". Nicht viel davon, aber immerhin. Nach genauerer Prüfung entpuppt sich das "Salz" als "Zucker".
Und dieser Zucker unterscheidet sich in nichts von dem "wahren, vollkommenen Zucker", der seit Jahrzehnten aus den Kolonien in der Karibik nach Europa eingeführt wird und die Briten reich gemacht hat.
Durchbruch mit Abschaffung der Sklaverei
Zuckerpflanzen kann man also auch im kalten Preußen anbauen. Eine sensationelle Entdeckung! Die allerdings erst mal 30 Jahre lang in der Versenkung verschwindet. Erst dann schaut sich Franz Carl Archard, Direktor der Königlich-Preußischen Akademie, die Aufzeichnungen wieder an. Und weitere 20 Jahre braucht er, bis er 1783 aus den Runkelrüben die Zuckerrüben gezüchtet hat. Aber die paar Rüben in Preußens Sand-Boden können die Vormachtstellung des Kolonialzuckers noch nicht beenden. Die Wende kommt erst mit der Abschaffung der Sklaverei, die den Zuckerrohranbau in Übersee so kostengünstig gemacht hatte - erst dann, gegen Ende des 19. Jahrhunderts haben die Rüben ihren Durchbruch.
Im Jahr 1850 gründet sich der Verein der Zuckerindustrie, der am 8. Mai 1904 ein Forschungsinstitut in Berlin eröffnet. Ein Raum darin ist für ein Zuckermuseum reserviert. Es ist das weltweit erste Museum, dass sich mit dem süßen Stoff beschäftigt und heute Teil des Deutschen Technikmuseums. Fehlt eigentlich nur noch eine Vitrine für die Rübengeister.