Sie versteht sich mit Papa besser, als mit Mama. Die Mama hat sie nicht lieb. Nicht, daß sie es je gesagt hätte, aber es ist so. Die Mama hat niemand vom Hause lieb, auch den Papa nicht.
Sie sitzt nur immer da und träumt und seufzt. Wenn sie durch die Zimmer geht, sieht sie niemand an, als wäre ihre Seele immer wo anders. Nur, wenn dann die Gäste kommen, leuchten ihre Augen. Alle sehen dann auf ihr schönes Kleid und ihre nackten Schultern. Sie aber lacht, daß man ihre schönen Zähne sieht.
Dann läßt sie ihr Töchterchen rufen, damit es die Gäste begrüße. Das Mädchen kommt in den Saal voll unbekannter Leute, sich selber[S. 25] fremd mit dem gebrannten Haar und dem weißseidenen Kleide. Und eine schöne, fremde Frau ruft sie heran, küßt sie auf den Mund. Diese Dame ist ihre Mutter. Ihr ist so bang, aber doch so gut. Die Mutter jedoch küßt sie, sagend: „Mein liebes Töchterchen!“
Sie weiß nicht, was das alles soll, die Lichter thun ihren Augen weh. Aber die Mutter, die M—u—tt—er hat sie geküßt! Ist das gut! Ist das süß!
Plötzlich weiß sie es ganz sicher in sich, vielsicher: sie hat ja die Mutter so lieb. Es ist ja alles nicht wahr, sie hat die Mama lieb.
Und sie reckt sich zu ihr empor, um ihr ins Ohr zu flüstern: „Mami!“
Sie stockt. Sie wollte sagen: wirst du mich immer so lieb haben wie heute?
Aber sie schämt sich und getraut sich nicht. Unten hat sie aber unglückseligerweise mit den Füßen auf Mamas schönes Kleid getreten, daß es knackt. Da trifft sie ein strafender Blick und sie muß hinaus.
Ihre Seele aber weint. Sie kann es nicht[S. 26] begreifen. Wegen dieses dummen Kleides durfte sie nicht bei ihr bleiben.
Und nun sieht sie immer diesen zürnenden Blick. Ach!
Wo muß nur der Papi sein? Der ist noch im Comptoir und rechnet. Rechnet und zählt den ganzen Tag, daß ihm davon die Haare vom Kopfe fielen. Wenn nur der Papi da wäre, der hat wenigstens kein schönes Kleid an.
Doch der Papi hat zu arbeiten und Mama empfängt Gäste. Sie jedoch muß mit der Gouvernante im kahlen Mädchenzimmer essen.
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Es ist heute schon so was Warmes, Trauriges in ihr. So, als ob sie ganz verlassen während des Regens im Freien stünde und um Obdach bettelte. Sie geht zu Fräulein Anna, welches in der Ecke sitzend schreibt.
„Liebes Fräulein Anna!“
„Betty! siehst du nicht, daß ich schreibe? Laß mich doch einmal in Ruhe. Nicht fünf Minuten kann man für sich haben.“
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„Verzeihen Sie, Fräulein Anna.“
„Und wissen Sie, Betty, ich muß heute noch auf eine halbe Stunde fort.“
Betty treten die Thränen in die Augen.
„Aber daß Sie nichts davon erzählen, sonst giebt’s Strafaufgaben.“
„Nein, niemand, Fräulein Anna.“ (Heimlich denkt sie, wen? sie denn nur zum Erzählen gehabt hätte!)
Fräulein Anna geht fort mit einem Federhut, ganz weiß im Gesicht und Brillanten in den Ohren.
Betty ist allein.
Wenn ich nur schon groß wäre! denkt sie. Dann werde ich auch einmal Mama und bekomme einen Papa. Dann will ich zu ihm ins Comptoir gehen und sagen: Komm, lieber Papi, laß die Sorgen! Draußen scheint die Sonne.