Ja, ja, in einer Großstadt, da sieht man so manches, was man nicht bemerken darf.
Diese Frauen z. B., von denen man nicht spricht.
Die sich nach den Männern umdrehen und so schöne Unterröcke haben.
Marie ging mit ihrer Tante. Lästig! Immer steckte jemand hinterher. Als ob das Leben derart dann lustig wäre!
Frei sein wie ein Bub! Nicht immer wie ein kranker Vogel behütet werden! Das wäre was!
Ihre Tante schritt in Engelsgeduld neben ihrer Nichte, aber solcher Liebenswürdigkeiten[S. 8] wird man eben erst inne, wenn man selbst ins Tantenalter kommt.
Plötzlich tauchte aus einem Hausthore ein widerliches, altes Weib auf, welches ein wunderschönes, halbwüchsiges Mädchen vor sich herstieß: „Nun, wird’s bald? Wenn du nicht bald anfängst, so giebt’s Prügel! Da geht einer — schnell!“
Das junge Mädchen aber machte ein Gesicht, als geschähe ihm das Schrecklichste im Leben. Als wäre es ganz hilflos und allein allem Elend preisgegeben. Völlig verlassen! Aus seinem wehen Blick schrie diese Verlassenheit anklagend zu Marien hinüber. Beider Augen begegneten sich eine Viertelsekunde.
Nie im Leben wird sie diesen Blick vergessen. Diese bodenlos tiefe, einsame Qual.
Die Tante zog Marie schnell auf die andere Straßenseite.
Und nun ahnte sie manches, als würde sie plötzlich hellsehend.
Leise flüsterte sie zur Tante, die geduldig neben ihr einherschritt: „Du Schützende, Gute!“