Bertha kam vom Pensionat heim. Ihre Eltern wohnten im ersten Stock. Jedesmal, wenn sie die Stiege nach fünf Uhr hinaufging, kam vom zweiten Max, der Gymnasiast, herunter. Er hatte Locken wie ein Dichter und sah sehr männlich aus.
Zuerst waren sie beide rot geworden. Er hatte sie gegrüßt.
Der Schulbub, dachte sie, ihn böse anblickend.
Aber am anderen Tage hielt er ein Briefchen, welches plötzlich in ihre Hände glitt. Das gefiel ihr. Es war etwas so Heimliches, Verbotenes dabei.
Ein Liebesbrief! Gott, das mußte schön sein!
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Vielleicht gar ein Gedicht: Brust — Lust, Herz — Schmerz!
Etwas regte sich in ihr, das Ding da wegzuschleudern. —
Sie schwebte fast die Treppe empor. Es war, als hätte sie neue, kräftigere Muskeln bekommen.
Oben klingelte sie. Das Stubenmädchen öffnete. Die Mama kam zufällig auch heraus.
„Was hast du denn, du siehst ganz sonderbar aus?“
„Ich? o gar nichts,“ sagte sie in halb keckem, halb wegwerfenden Ton. In sich meinte sie, nun sei sie etwas, weil sie einen Brief von einem „Herrn“ bekam.
Die Mutter sah ihr in die Augen, strich ihr über die Scheiteln: „Hast du mir nichts zu sagen, mein Kind?“
Plötzlich wurde der Kleinen weich zu Mute: die Mami belügen! So etwas! Aber dann kam der aufrührerische Kindertrotz in sie: „warum sind sie immer hinterher, mich zu quälen, mich auszuspionieren, als ob ich etwas Schlechtes[S. 3] thun wollte. Justament! da habt ihr’s, nun thue ich’s erst recht.“
„Gut, mein Mädchen: du weißt noch nicht, daß selbst der Dieb Einwände und Entschuldigungen für sich findet.“
Der Mama entgegnete sie: „ich weiß nicht, was du hast, es ist nichts.“
Dann ging sie nach einem gewissen Ort, dem einzigen, wo sie allein gelassen wurde, und las: „Glühende Liebe — Triebe, Sonne — Wonne.“
Es war wunderbar schön! Sie zitterte dabei vor freudiger Aufregung.
Er bat um ein Rendezvous. Gott! wo denn? Man ließ sie ja nie allein.
Aber es ging doch, weil es verboten war. Er sah sie am Schulweg, und in einer Hauseinfahrt drückte er ihr schnell die Hände, umschlang und küßte sie. Das war herrlich! Die ganze Zeit dachte sie nichts als: na, wenn Papa und Mama das wüßten!
Max erzählte ihr auch von schönen Büchern, die er bereits gelesen. Er wollte ihr dieselben[S. 4] auch leihen. Das konnte er, der sie stets heimlich aus seines Vaters Bibliothek entwendete.
Aber da wurde ihr Stolz gekränkt. Sie lehnte dankend ab. Denn sie hatte auch Mut, und auch ihr Papa eine Bibliothek.
Nun wollte sie etwas Verbotenes lesen.
Mittags schlich sie, einen plausiblen Vorwand vorschützend, hinaus und trat in des Vaters Arbeitszimmer. Dort nahm sie ein x-beliebiges, dünnes Buch mit extravagantem Einband. Das mußte „so etwas“ sein.
Dann trug sie es in ihr Bett, legte es unter die Polster, um danach scheinbar gleichgültig ins Speisezimmer zurückzukehren.
Nachts, als alles schlief, zündete sie an, um zu lesen. Richtig! Eine Liebesgeschichte für erwachsene Leute!
Sie verstand nicht alles, allein es war sehr schön: Da liebte ein Mann ein Mädchen. Und er sagte ihr: Das Leben ist ernst und schwer. Wollen wir miteinander gehen und treu zusammen aushalten? Das Leben ist oft schmutzig, du aber bist rein wie eine weiße Blüte am[S. 5] hohen Aste. Willst du mein Weib und mein Kind und meine Mutter sein? Sie aber sah ihn mit ihren reinen Augen an und legte ihre Hände vertrauend in die seinen.
Bertha las, las — ihre Wangen wurden fiebernd. Dann glitt das Buch aus den Händen, über die Decke — sanft hinab bis auf den Teppich, wo es zuklappte.
Ihre Gedanken aber kamen drohenden Gespenstern gleich, höhnend: Siehst du, siehst du! Nun haben deine Lippen geküßt. Du Schulmädchen mit dem Schulbuben, ihr schriebt euch Liebesbriefe, statt zu lernen.
Nun hast du die zarte Knospe Liebe in deiner Seele aufgerissen, ehe es Frühling ward. Und das Leben ist so lang und so schön! — Wenn es dann einmal Mai in deinem Herzen wird und einer vor dich hintritt (dem du nicht Küsse giebst, weil es die Eltern verboten) — wirst du ihm so selig — rein in die Augen sehen können? So glücklich, wie im ersten Kuß an einen, der deiner wert ist!
Ja, nun ist eines schon vorüber — eins[S. 6] hast du dir selbst für immer schon zerstört. Wen hast du gestraft in deinem Kindertrotz? Deine Eltern oder dich?