Man schreibt mir, ich möge wieder eine journalistische Erinnerung zum besten geben. Also gut.
Die Geschichte, die davon handelt, wie es einst vier Polizisten gelang, mich durch ihr strategisches Talent zu verhaften, habe ich bislang aus zwei Gründen nicht erzählt:
1. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, daß der Journalist nichts von den Geheimnissen seiner Technik ausplaudern soll. So soll, zum Exempel, kein Leser davon erfahren, daß die Nachrichten über Todesfälle besonderer Männer von der Zeitung meist mit großen Schwierigkeiten rechtzeitig in Erfahrung gebracht werden. Die meisten Portiers der Prager Palais, der Ämter und öffentlichen Institute sind von den Redaktionen nachdrücklich verständigt, eventuelle Todesfälle unverzüglich zu deren Kenntnis zu bringen, und wenn irgend eine besondere Persönlichkeit schwer krank ist, dann wird das Haus noch überdies bewacht, damit der Leser schon am nächsten Morgen die traurige Neuheit erfahre.
2. Es wäre taktlos gewesen, einen Vorfall, der sich an eine solche Überwachung knüpft, zu berichten, so lange der damals Überwachte noch am Leben war.
Aber jetzt kann ich die Geschichte erzählen. An ungeschriebene Gesetze halte ich mich ebensowenig, wie an geschriebene, und verrate daher ganz offen das Geheimnis des Todesnachrichten-Dienstes; und auf die Gefahr hin, daß manchen angesehenen Leser ein Gruseln überfällt, verrate ich hiemit, daß schon mancher Mann derart überwacht wurde, der glücklicherweise noch heute frisch und gesund in sein Amt spaziert.
Es ist schon etwelche Jahre her. Ich war erst vor kurzem zur Zeitung gekommen und zu meinen wichtigsten Obliegenheiten gehörte es, mich im Sicherheitsdepartement der Polizeidirektion danach zu erkundigen, ob nicht irgendwer irgendwo wegen irgendeiner ungesetzlichen Tat in Haft genommen worden sei. Da erfuhr ich denn von Bierröhrendiebstählen, Heiratsschwindeleien und Betrugsaffären und wenn jemand jemanden ermordet hatte, dann war’s ein schönes Leben, denn da hatte ich viel zu schreiben. So ging ich zweimal täglich in das Sicherheitsbureau, vor dem immer ein Polizist Wache steht. Die Wachleute kannten mich daher und viele wußten auch bald, aus welchen Gründen ich die gefürchteten Räume der Kriminalpolizei betrete. Aber die Polizisten, welche schon nach kurzer Zeit von der Altstädter Wachstube auf andere Kommissariate versetzt wurden, wußten das nicht.
Um jene Zeit war Direktor Angelo Neumann, kurz nach seiner Operation bei Prof. Israel in Berlin, in Prag schwer erkrankt. Der damalige Theatersekretär, der vor einigen Jahren in Wien verstorbene Karl Rosenheim, hatte meinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem gleichfalls seither dahingeschiedenen Redakteur Hermann Katz mitgeteilt, daß es schlecht um Angelo Neumann stehe. So erhielt ich denn den Auftrag noch in der Nacht, unmittelbar vor Redaktionsschluß nach Angelo Neumanns Wohnhaus zu sehen.
Um vier Uhr nachts ging ich hin. Innerhalb der Parterrefenster im Eckhause der Bredauergasse und des Stadtparkes, wo Angelo Neumann seine Wohnung innehatte, war es dunkel — es war also nichts Absonderliches geschehen. Ich wandte mich, den Weg zurückzukehren, den ich gekommen war. Da hörte ich hinter mir schwere, eilende Schritte. Ich schaute mich um: Es waren zwei Polizisten, denen der nächtliche Passant, der in der menschenleeren Gegend unmittelbar vor ihnen umgekehrt war, sehr verdächtig schien. Anfangs machten sie Miene, mir nachzueilen, aber sie erkannten bald, daß ich ihnen leicht entwischen könnte und änderten daher ihre Taktik. Der eine Polizist begab sich auf das linke, der andere auf das rechte Trottoir und nun nahmen sie, auf gleicher Höhe eilend, die Verfolgung auf. Ich beschleunigte meinen Gang, da ich kalkulierte: Wenn ich verhaftet werde, so kann ich morgen auf Grund des Polizeirapportes wunderbar nachweisen, daß ich wirklich um vier Uhr nachts meinen Auftrag vollführt habe. So eilte das nächtliche Dreieck vorwärts: Ich in der Mitte der Fahrbahn voran, rechts hinter mir ein uniformierter Verfolger, links von mir ein zweiter.
Die Distanz verringerte sich nicht. Die Wachleute strengten sich nicht mehr an als ich und riefen mir kein Halt zu. Sie schienen einen Plan zu haben. Nur dort, wo von der Bredauergasse die Olivagasse abzweigt, vergrößerte der rechte Mann seine Eile, damit ich ihm nicht durch die Seitengasse entwische. Aber ich ging den geraden Weg. Und bald verstand ich den Plan: Knapp vor der Einmündung in die Heinrichsgasse ließen meine Verfolger ihre Polizeipfeife ertönen. Und aus dem Dunkel der Nacht tauchte jetzt auch vor mir ein Doppelposten auf. (Es war jener Posten, der bei Nacht vor dem Hauptpostgebäude zu stehen hat und bloß einmal nicht dort stand: Als Wasinski an dieser Stelle seinen Mord verübte.) Ich war umzingelt und konnte nicht mehr entwischen. Wie triumphierend ertönte hinter mir der tschechische Ruf: „Halt“.
Ich blieb stehen und die Polizisten näherten sich mir. „Was haben Sie hier gemacht?“ fragte der eine.
„Ich bin spazieren gegangen,“ versetzte ich so kleinlaut, als ich konnte. Die Wahrheit war ja Redaktionsgeheimnis und kümmerte die Wachleute nichts.
„Schau, schau! Spazieren sind Sie gegangen,“ wunderte sich einer der Polizisten. „Um vier Uhr nachts geht man spazieren?“
„Ja, ich komme aus der Arbeit und da bin ich noch etwas frische Luft schöpfen gegangen,“ entschuldigte ich mich weitschweifig.
„Was sind Sie denn?“ fragte man mich weiter.
„Ich bin bei der Firma Haase angestellt,“ antwortete ich wahrheitsgemäß, wenn auch nicht prägnant.
Der Fragesteller lachte siegreich auf: „Wie können Sie also jetzt aus der Arbeit kommen! Bei Haase wird doch nachts nicht gearbeitet!“
Schon wollte ich etwas entgegnen, als zwei Augen des Gesetzes, die mich bisher scharf angesehen hatten, noch näher an mich heranrückten. „Sie,“ so begann ihr Inhaber, „Sie, mir scheint, wir kennen einander schon.“ Und ohne meine Antwort, daß ich nicht die Ehre habe, abzuwarten, fuhr er fort: „Waren Sie noch nie im Sicherheitsdepartement?“
„O ja,“ sagte ich, „ich war schon oft im Vierer.“
Das Wort „Vierer“ hatte eine tiefe Wirkung, denn nur den Eingeweihten, hauptsächlich den Polizisten und den Verbrechern ist dieser Ausdruck für das Sicherheitsbureau (das vierte Departement der Polizei) geläufig. Der eine Polizist steckte eine Miene des Jubels auf, der zweite nickte langsam mit dem Kopfe und der dritte verlieh geistesgegenwärtig der allgemeinen Verblüffung beredten Ausdruck. Er führte aus:
„Ei, ei.“
Der vierte aber, der Besitzer jenes Augenpaares, das mich erkannt und entlarvt hatte, wollte nunmehr auch beweisen, daß meine Agnoszierung keine zufällige und seine Personalkenntnis des Sicherheitsbureaus wirklich eine tiefgründige sei:
„Da kennen Sie wohl den Herrn Olič?“
„Freilich kenne ich den Herrn Regierungsrat,“ war meine Antwort. (Olič, der vor drei Jahren als Hofrat in Pension ging, war damals Departementschef.) Das Frage- und Antwortspiel ging weiter:
„Und Herrn Protiwenski?“
„Ja, den Herrn Oberkommissär kenne ich auch. Und den Herrn Oberkommissär Lichtenstern und die Herren Kommissäre Knotek, Drašner, Vanásek und Kubiček kenne ich ebenfalls.“
Ich glaubte mit dieser summarischen Aufzählung aller damaligen Sicherheitsbeamten weiteren Fragen meines Peinigers die Spitze abgebrochen zu haben, aber dieser war gründlicher als ich glaubte. Er setzte das Verhör fort:
„Kennen Sie vielleicht den Herrn Wejřik?“
„Jawohl, auch den Herrn Arresthausverwalter kenne ich. Sehr gut sogar.“
„Das glaub’ ich,“ erscholl es jetzt — mein Schicksal schien besiegelt. „Kommen Sie,“ sagte der eine Polizist zu mir und wandte sich nach der Richtung, in der das Kommissariat Heuwagsplatz liegt.
Aber um unsere Gruppe hatte sich, trotz der späten Nachtstunde, eine ganz beträchtliche Menschenansammlung gebildet. Es waren größtenteils die Stammgäste des alten Einkehrhauses „u Rajtknechtu“, das an der Stelle des heutigen Palace-Hotels stand. Die allnächtliche Blütezeit dieses Gasthauses begann erst um zwei Uhr nachts, wenn die Setzer der nahen Zeitungsunternehmungen mit ihrer Arbeit zu Ende waren und das offizielle Eingangstor der Schenke gesperrt werden mußte. Diese Stammgäste hatten nun davon gehört, daß draußen vier Polizisten mit der Festnahme eines Verbrechers beschäftigt seien, waren hinausgeeilt und hatten mit wachsendem Staunen meiner Einvernahme gelauscht. Als ich aber abgeführt werden sollte, traten zwei Setzer, die mich kannten, den Polizisten in den Weg:
„Herr Redakteur, sollen wir Sie vielleicht legitimieren?“
Aber das war nicht mehr nötig. Die Anrede machte die Polizisten stutzig und langsam dämmerte ihnen der Zusammenhang zwischen den Begriffen Nachtarbeit, Haase und Polizeikenntnis auf. Und gleichzeitig fiel ihnen ein, daß ich sie als Bekannter der ihnen vorgesetzten Polizeibeamten vor diesen schön blamieren könnte, wenn ich die Geschichte erzählte. Einer der Wachleute starrte mich wütend an, kehrte mir dann verächtlich den Rücken und ging von dannen. Ein zweiter aber verduftete blick- und wortlos. Der dritte salutierte mit kleinlautender, entschuldigender Miene. Der vierte aber brummte im schönsten Prager Deutsch: