Für jene Leser, welche den Titel dieses Feuilletons nicht verstehen sollten, sei gleich vorweg bemerkt, daß „Drehorgel“ auf Pragerisch „Flaschinett“ heißt. Für jene Leser aber, die deshalb die Frage stellen würden, warum ich also nicht den allgemein verständlichen Ausdruck als Titel gewählt habe, sei gleich vorweg bemerkt, daß sich Fremdwörter immer sehr vornehm ausnehmen. Außerdem würde man eine Beschreibung des in Rede stehenden Instruments im Lexikonbande 6 („Erdeessen bis Franzèn“) weder unter dem Schlagworte „Flaschinett“ noch unter „Folterwerkzeuge“ vorfinden. Man muß vielmehr den Band 5 („Differenzgeschäfte bis Erde“) hernehmen und in diesem nicht die Rubriken „Duldsamkeit“ oder „Darlehenschwindel“ nachschlagen, sondern das Kennwort „Drehorgel“ suchen. Gleich nach „Drehkrankheit“ kommt es.
Das Wort „Flaschinett“ findet sich aber auch unter Chiffre „Drehorgel“ weder im Brockhaus noch im Meyer. Diesen Ausdruck muß man wieder im Bande 6 sub „Flageolett“ nachsuchen, wo mitgeteilt wird, daß das Flageolett oder Flaschenett — man beachte die falsche Orthographie der Herren Brockhaus und Meyer — ein kleines Blasinstrument, der letzte Sprosse der Familie der Schnabelflöten ist, und nur in Frankreich und Belgien noch in Gebrauch steht. Nun wird mich jener am Anfang dieses Feuilletons hinreichend charakterisierte Leser wieder mit der Frage belästigen, wo da die Logik sei, wenn man in Prag ein Musikwerk mit dem Namen einer im Aussterben begriffenen Seitenlinie der Schnabelflöten bezeichnet. Kruzeihimmelfix, wozu braucht man denn bei einem Flaschinett eine Logik! Dem Fragesteller aber wünsche ich, daß ihm während seines heutigen Nachmittagsschläfchens ein Drehorgelspieler solange ein Ständchen bringt, bis beide Plagegeister auf alle weiteren Chikanen Verzicht leisten.
In Prag ist die Ansicht verbreitet, daß es ungefähr zwei- bis dreitausend Drehorgelspieler gebe. Dem ist aber nicht so. Erwähnter Irrtum dürfte darauf zurückzuführen sein, daß gewöhnlich zwei Drehorgelspieler gleichzeitig in derselben Gasse konzertieren, was eine Art zweihändigen Vierhändigspielens darstellt und die harmonischen Wirkungen dieses Instrumentes erheblich erhöht. Besonders prächtig sind diese musikalischen Effekte, wenn aus einem Leierkasten die Töne des „Donna è mobile“ entquellen, während aus dem anderen beharrlich das klassische Lied „O Emane“ — Heimatkunst! — hervorgekurbelt wird. Dieses multiplizierte Auftreten von Drehorgelspielern in derselben Gasse ist aber kein Beweis von deren großer Zahl, sondern es ist nur ein ehrendes Dokument für das Vertrauen, das die Hofmusiker in die Freigebigkeit der Bewohner dieser Gasse setzen.
Im Bureau III. a. der Prager Polizeidirektion, dem Departement für öffentliche Belustigungen, welches ein sehr richtiger Wortwitz als „Departement für öffentliche Belästigungen“ bezeichnet, erfährt man zum atemlosen Staunen, daß es in Prag nur zweiundzwanzig Drehorgelspieler gibt. Wenn man naiv ist, gibt man sich mit dieser Erklärung zufrieden, und geht nach Hause, in der Meinung eine zufriedenstellende Auskunft erhalten zu haben, da ja diesem Departement für öffentliche Belustigungen natürlich auch die Konzessionserteilung und die Handhabung der Vorschriften für Drehorgelspieler untersteht. Wenn man aber nicht naiv ist, so begibt man sich in ein Departement, das mit der Konzessionserteilung an Leierkastenmänner nichts zu tun hat, das Departement, dem die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und daher auch das Drehorgelspielen untersteht. Allerdings nur insoweit, als es unbefugt ausgeübt wird. Da erfährt man ganz andere Ziffern: Die Zahl der nichtkonzessionierten Werkelmänner ist etwa dreimal so groß, wie die behördlich autorisierten.
Und was für Exemplare sind darunter. Da sind zum Beispiel zwei Brüder, welche ich hier Chwatal nennen will. Ihre Aktenfaszikel sind so groß, daß zwei Zivilwachleute ausgesandt werden müssen, um sie aus der Registratur zu holen. Der eine der Brüder hat allein vierhundertdreißig Akten. Aus denen kann man die ganze Biographie Wenzel Chwatals herauslesen. Als Kind hatte er einen sehr ernsten Beruf. Er sang an jedem sechsten Jännertage, mit einer papiernen Goldkrone angetan, vor den Wohnungstüren das Lied von den heiligen drei Königen. Den Rest des Jahres scheint er sich über die Freigebigkeit der Wohnungsinhaber orientiert zu haben, um sich dann als König nicht ein Refus zu holen. Bei diesen Orientierungsgängen ist er, wie Wenzel Chwatals Akten künden, wiederholt verhaftet worden und residierte dann für kurze Zeit im Polizeiarrest. Als unser Wenzel herangewachsen war, entsagte er seinem königlichen Berufe, aber der Musik blieb er treu. Er gründete mit einem gleichgesinnten Manne, dem das Schicksal keine Füße beschert hatte, ein Kompaniegeschäft. Sie liehen sich einen Leierkasten aus, den Chwatal auf seinem rüstigen Leibe trug und dem er durch liebevolles Drehen der Kurbel die herrlichsten Weisen entlockte, die im Busen eines Flaschinetts schlummern. Der fußlose Kompagnon ging einsammeln. Später verdroß es den unternehmungslustigen Chwatal, das sauer verdiente Spielhonorar zu teilen, er engagierte ein billiges Bürschchen und besorgte das Inkasso selbst. Das Geschäft florierte, und Wenzel Chwatal, dessen einziger Schmuck bislang eine sorgsam gepflegte Stirnlocke gewesen war, konnte sich eine Samtjacke kaufen. So, jetzt war er ein Künstler. Aber die Wachleute haben eben kein Verständnis für wahre Kunst. Die Banausen schreckten selbst vor der schönen Samtjacke nicht zurück und fragten, durch die magischen Klänge herangelockt, den Spieler, ob er eine Konzession habe. Das war eine herzlich alberne Frage, denn die Bewilligung zum Spielen wird nur alten, vollkommen erwerbsunfähigen Leuten erteilt. Und Chwatal war doch ein fescher Kerl, nicht? So verneinte er des Wachmanns Frage, und folgte diesem zur Polizei. Dort wurde nach seiner Einlieferung eine „Anhaltungs- und Verhaftungsanzeige“ ausgefüllt, die fast jedesmal gleiche Worte trägt: „Wenzel Chwatal, geboren in Prag am 7. November 1872, wurde wegen unbefugten Drehorgelspielens angehalten und dem Polizeikommissariate eingeliefert. — Corpus delicti: Eine Drehorgel. — Eigene Effekten: Lederner Schutzriemen, Leibriemen, Spiegel, Kamm, Anhängetasche, drei Zigaretten und 64 Heller Bargeld.“ Dann wurde Chwatal abgestraft und diese Strafe auf einem zweiten Akt, dem sogenannten „Strafregisterblatt“ gebucht, auf den stereotyp geschrieben wurde: „Wenzel Chwatal wird der Übertretung des Erlasses der k. k. Statthalterei für das Königreich Böhmen vom 21. Juni 1889 schuldig erkannt und wird nach der kaiserlichen Verordnung vom 20. April 1854, Z. 96 RGBl., zu einer Haft von 24 Stunden verurteilt. Gegen diese Erkenntnis kann bei der Statthalterei oder der k. k. Polizeidirektion binnen drei Tagen Berufung eingelegt werden.“ Aber dem Wenzel Chwatal fällt es gar nicht ein, Berufung einzulegen. Auch das breite Rubrum, in welchem für „die Rechtfertigung oder das Geständnis der Beschuldigten“ weitester Platz gelassen wird, füllt Chwatal nur lakonisch aus: „Doznávám“ — „Ich bekenne mich schuldig.“ Auch Sokrates verschmähte die Verteidigung.
So steht es in den meisten Akten, und nur wenige lauten anders. So z. B. die Beschwerde eines konzessionierten Harmonikaspielers, der sich durch Chwatals Konkurrenz geschädigt fühlte. In dieser Beschwerde wird ausgeführt, daß Chwatal bettle, aber gleichzeitig vier Liebschaften unterhalte und allen vier Damen Wohnung, Kleidung und Nahrung bezahle. Ob diese Erfordernisse für Chwatals Harem besonders große sind, steht nicht in der Beschwerde des empörten Harmonikaspielers, und es ist anzunehmen, daß der schöne Chwatal seine vier Verhältnisse eher unter Einnahmen als unter Ausgaben buchen könnte. Wie dem auch sei: Chwatal ist ein Lebemann. Das geht auch aus einer anderen Anzeige hervor: Eine Frau — um den Ruf der Dame zu schonen, sei sie hier mit dem Decknamen „Veronika Potvora“ bezeichnet — macht der Polizei davon Mitteilung, daß Wenzel Chwatal ihre Tochter Philomena Potvora entführt habe. Dieser Familienzwist scheint bald beigelegt worden zu sein, denn acht Tage später meldet eine Note des Kommissariates Prag-Josefstadt, daß der Drehorgelspieler und Vagant Wenzel Chwatal mit seiner Geliebten Philomene Potvora aus seiner bisherigen Wohnung ausgezogen und zu Frau Veronika Potvora, der Mutter seiner Geliebten, übersiedelt sei. Andere Akten berichten davon, daß Chwatal sich seiner Verhaftung widersetzt, bei seiner Arretierung gelacht habe. Und unter jedem Akte steht immer: „Doznávám — Ich gestehe.“ So übte er weiter sein Handwerk aus und da man ihm den Leierkasten nicht pfänden kann, weil dieser nicht sein Eigentum ist, so wird man wohl noch viele Scherereien mit ihm haben. Chwatal steht ja im schönsten Mannesalter. Einmal hat er um die Konzession zum Drehen der Leierkastenkurbel angesucht, aber er bekam sie nicht. „Mir ist es Wurscht,“ meinte er überlegen.
Die Konzessionen für das Drehorgelspiel sind schwer zu erlangen. Früher bekamen ausgediente, im Kriege blessierte Soldaten außer der Kriegsmedaille auch die Bewilligung, Werkelmänner zu werden. Aber seit dem letzten Kriege, den Österreich geführt hat, sind schon Jahrzehnte verstrichen und die alten Invaliden aus Kriegsläuften sind meist längst begraben. Ein wahres Glück, daß vor zwei Jahren die drohende Kriegsgefahr glücklich abgewendet worden ist. Die schrecklichste Folge des Krieges wäre wohl gewesen, daß neue Werkelmänner dekretiert worden wären!
Die Blütezeit des Leierkastenspieles in Prag ist vorbei. Früher hat es in Prag noch Savoyardenknaben gegeben, welche mit ihren Miniatur-Drehorgeln, ihrer verschnürten Tracht und ihren gebräunten Gesichtern Aufsehen und Mitleid wachriefen. Früher durften die Werkelmänner ihr Instrument in der Mitte der Straße aufstellen, heute sind nur die Höfe der Häuser ihr Rayon und in den neuen Häusern gibt es gar keine Höfe. Früher durften die Drehorgelspieler von früh bis abend werkeln und kamen oft in die Geschäfte betteln, bevor diese noch einen Kreuzer verdient hatten; heute dürfen sie an Wochentagen nur von zwölf Uhr mittags an, an Sonntagen bloß von vier Uhr nachmittags an bis zum Einbruch der Dämmerung spielen. Immerhin scheint das Werkeln noch ein lukratives Geschäft zu sein, wie voriges Jahr die Geschichte des Raubmordes an dem Drehorgelspieler Janeček gelehrt hat, und wie die zahllosen Gesuche um Konzessionsbewilligung beweisen, die im Departement des Oberpolizeirates Peschka einlaufen. Ja, es kommen sogar Gesuche von begüterten Gemeinden, man möge diesem oder jenem ihrer Ortsarmen die Bewilligung zum Leierkastenspiel — in Prag gewähren.
Aber die Statthalterei hat nun verboten, daß für Prag neue Konzessionen ausgestellt werden und auch die Bewilligungen für die zum Polizeirayon gehörenden Vorstädte werden jetzt nur in den seltensten Fällen erteilt. Und mögen es die Dienstmädchen, welche ihren letzten Kreuzer in den Hof hinunterwerfen, um das Lied von der „Unglückseligen Armut“ da capo zu hören, und mögen es die Vorstadtkinder, welche so gerne zu den verstümmelten Klängen des Walzers aus der „Lustigen Witwe“ umherhopsen, noch so bitter empfinden — die Drehorgel ist auf den Aussterbeetat gesetzt. Das Flaschinett wird verschwinden wie jenes Blasinstrument, dessen Namen es entlehnt hatte, es wird verschwinden, so wie es gelebt: Sang- und klanglos.