Westend von Prag. Endstation der Elektrischen, die Smichow und Koschiř durchquert.
Über dem Gittertor steht die Aufschrift „Klamovka“ mit so großen Goldbuchstaben, daß jeder erkennen müßte, die hohe, von blütenschweren Bäumen überdachte Mauer umschließe keine öffentlichen Anlagen, keinen Privatpark. Es ist offenbar ein Wirtshausschild, das dringlich zum Eingange lädt. Aber das Tor ist versperrt, und keine Klingel ist vorhanden, die einen öffnenden Pförtner herbeizurufen vermöchte. Und selbst wenn man in der abzweigenden Weißbergstraße das offenstehende Seitentürchen entdecken, durch dieses eintreten und die Stiegen zum Garten hinaufschreiten würde, so müßte man umkehren, denn ein Zettel verwehrt strenge dem Fremden den Eintritt. Der abweisende Inhalt des kleinen Zettels auf dem Seitentor kontrastiert mit der einladenden Aufschrift der großen Tafel auf dem Haupttor. Sodaß man doch in Zweifel gerät, ob hier ein Wirtshausgarten oder ein Herrschaftspark sei.
Beides oder keines von beiden. Früher haben Grafen und Gräfinnen hier im Clamschen Garten auf schattigen Kieswegen lustwandelt. Aber später wurde der gräfliche Park an einen bürgerlichen Gastwirt verkauft, und der baute in der Mitte des Gartens ein Gasthaus mit einem Tanzsaal.
Nun aber wird hier auch nicht mehr getanzt. Seit heuer. Noch im vorigen Jahr war die „Klamovka“ am Sonntag nachmittag ein Wallfahrtsort der Dienstmädchen, der Burschen und Mädchen aus dem Volke, und oben im Saale wurden bis spät in den Abend Quadrillen und Walzer getanzt, besonders schlürfend der Sechsschrittwalzer, der im Volksmund „Na šest“ heißt, dessen charakteristisches Merkzeichen die langgezogenen, langsamen Schritte bei der linksdrehung sind, und bei dem man in erheuchelter oder echter Verzückung die Augen zu schließen hat. In den Pausen aber gingen die Liebespaare, sich umschlungen haltend, hinunter in den Garten, in dem die hohen Christusakazien, die duftenden Syringensträucher, die schattigen Kastanienbäume, die silberglänzenden Rotbuchen, die dichten Ahornsträucher und die verzweigten Hagedornbüsche in Blüte standen. Wenn auch die Blütenpracht von den Liebespaaren wohl kaum eines Blickes gewürdigt worden ist — der Einfluß des Milieus muß doch im Unterbewußtsein seinen Nachhall geweckt haben, dem Frühling der Herzen muß es doch inmitten des Frühlings der Natur am wohlsten gewesen sein. Sonst wären die jungen Leute doch in nähere Sonntagstanzlokale gezogen, wie in das Weinberger Bräuhaus, in das Gasthaus „Na Slovanech“ auf dem Karlsplatz, wo der Wirtsgarten nur aus paar verkrüppelten Bäumen besteht. Doch dort war’s nie so voll wie in der „Klamovka“.
Zwölf Jahre tanzte man hier. Am Anfang schien es, als wolle sich das entlegene Tanzlokal nicht einbürgern, und der alte Hlavaček, der für den Ankauf des Gartens und für die Aufführung des Wirtshausbaues sein Vermögen verwendet hatte, schoß sich aus Verzweiflung eine Revolverkugel ins Herz. Sein Sohn aber hatte mehr Glück und allsonntäglich war es voll im Clamschen Garten.
Vor zwei Jahren aber haben die Barmherzigen Brüder den herrlichen Garten gekauft, um in ihrem menschenfreundlichen Wirken keine Stockung eintreten zu lassen, falls ihr jetziges Spitalsgebäude in der Josefstadt als Opfer der Assanierung fallen würde. Von heuer ab bleibt das Gasthaus unvermietet und das Gartentor steht geschlossen. So werden die Nachfolger der Liebespaare, die sich hier im Garten ihrer Jugend freuten, die bleichen Kranken sein, die humpelnd oder in Rollwägelchen wehmütig den Glanz der Blumen betrachten und den Duft der Blüten atmen werden. Es kann sein, daß vielleicht einmal ein alter Patient oder ein krankes Mütterchen, den Garten betretend, schwermütig lächeln werden, weil sie in diesem Garten, der nun ihr Krankenasyl sein soll, in der schönsten Zeit ihres Lebens viel geweilt haben und seither nicht mehr. So wird ihnen doppelt wehe ums Herz sein. Aber das Gefühl wird kein bedauerndes sein. Denn auf der „Klamovka“ ging es nicht ausschweifend zu, wie z. B. in einer unmittelbar benachbarten Gartenwirtschaft, welche heuer als Erbe der „Klamovka“ die Koschiřer Jugend übernommen hat und auf deren Usancen ein Mordprozeß des vergangenen Jahres ein böses Licht warf. Auf der „Klamovka“ gab es nie eine „parta“, wie die Platten im Prager Vorstadtjargon heißen. Hier hatte fast jedes Mädchen bloß einen ständigen Tänzer, den Liebhaber. Wenn der gewechselt wurde, gab es stumme Katastrophen.
So hat beispielsweise einmal ein Artillerie-Freiwilliger hier Unheil angerichtet. Der hatte richtig kalkuliert, daß seine schmucke Uniform ihm hier ein siegendes Liebesglück verschaffen müsse, und war in den Clamschen Garten gefahren. Sein Eintritt in den Saal war eine Sensation. Hierher, wo schon die Uniform eines Infanterie-Pferdewärters auf die unbefangenen Mädchenherzen elektrisierend einwirkte, kam ein Einjährig-Freiwilliger mit tadellosem Scheitel, blanken Lackkanonen, silbernen Salonsporen, hellblauen Kammgarnhosen, dunkelbraunem Waffenrock mit dem verschnürten Schützenzeichen und einem vorschriftswidrigen Flitterstern auf dem feuerroten Kragen! Er kam in den Saal und musterte die Paare kritischen Blickes. Dann wählte er sich ein Mädel zum Tanz, ein Mädel, dem die Stammgäste prophezeiten, daß es gar bald von der blonden Jarmila den von allen angestrebten Titel „Hvězda Klamovky“, des Sterns des Clamschen Gartens, erben werde. Er tanzte, tanzte wieder, und der junge Monteur, der bis zur Stunde der Liebhaber der Kleinen gewesen war, der tanzte nicht. Der saß in dem Saalteile, der durch Säulen vom Tanzsaale geschieden und für die Biertische reserviert war. Als es 8 Uhr und gerade eine Tanzpause war, ging er zu dem Mädel, das mit dem goldstrotzenden Galan promenierte.
„Komm’ nach Hause, Božena.“
„Ich will nicht.“
„Ich muß doch um 9 Uhr im Elektrizitätswerk sein. Sonst wirft man mich hinaus.“
„Dann wird man dich eben hinauswerfen.“
„Du weißt doch, daß mein Vater beim Bürgermeister war, damit ich die Stelle bekomme.“
„Ich halte dich nicht. Du kannst ja gehen.“
Den letzten Satz sprach sie schon davontanzend, denn die Musik hatte das tschechische Volkslied begonnen, das an zwei blaue Augen die Frage richtet, warum sie voll Tränen seien. Der Monteur empfindet das Schmerzliche des letzten Satzes doppelt schmerzlich, weil es im Arme des anderen gesagt worden ist. Er fühlt, daß das Mädel, indem sie ihn abwies, dem anderen eine Liebeserklärung gemacht hat. Fühlt, daß sich jetzt die zwei fester aneinander schmiegen und vielleicht über ihn, den heimgeschickten Dritten lächeln. Der Bursch geht zu seinem Platz zurück und ist blaß.
Allein fortgehen kann er nicht, trotzdem die Božena das behauptet hat. Sonst geht das Mädel mit dem Kanonier nach Hause, und dann lächeln die zwei nicht mehr, sondern sie lachen. Noch mehr Leute, die Stammgäste der „Klamovka“ würden alle lachen über „křen“, den Wurzen, der ein Mädel zum Tanz führt, damit dieses mit einem anderen nach Hause gehen könne. So bleibt der junge Monteur sitzen bis 9 Uhr (die Stunde, zu der er bei der Kontrolluhr im Elektrizitätswerk sein soll) längst vorbei ist. Er sitzt blaß beim Bier und möchte sichs nicht anmerken lassen, wie sehr ihm die Musik in das Herz schneidet, die seinem Mädel zum Tanz mit einem anderen aufspielt. So wiederholt er sich die Worte, die ihm ein Freund im Vorbeigehen tröstend zugerufen: „Was liegt an einem Mädel!“ Spät abend geht er mit der Božka nach Hause. Er weiß gar wohl, daß sie sich für morgen ein Stelldichein mit dem Freiwilligen verabredet hat, er weiß gar wohl, daß jetzt alles aus ist. Er hat aber wenigstens die Blamage verhütet, er begleitet wenigstens das Mädel nach Hause, mit dem er gekommen war. Mag es ihn immerhin seine Stellung gekostet haben!
Es war zum letztenmale, daß er mit Božka heimging. Es war zum letztenmale, daß er auf der „Klamovka“ getanzt hat. Auch wenn das breite Gittertor nicht verschlossen wäre, würde er nicht mehr hingehen. Er verkehrt jetzt in anderen Lokalen. Fast täglich mit einem anderen Mädel. Und wenn jetzt jemand seine Begleiterin verlangend mustert, dann muntert er sie noch auf, den Blick zu erwidern. Er hat auch gar nichts dagegen, wenn sie jetzt mit jemandem den ganzen Abend tanzt, ja selbst wenn sie dann mit dem anderen nach Hause geht. Er fürchtet nicht mehr, als „křen“ zu gelten. Er will nur Geld haben. „Was liegt an einem Mädel!“ Das Wort, mit dem er sich damals zu trösten versuchte, ist seine Lebensmaxime geworden ...
Eine Pointe hat die Geschichte nicht. Es sei denn, man wollte es vielleicht als Pointe ansehen, daß an manchen Abenden auch die Božka (die ginge übrigens heute auch nicht mehr auf die „Klamovka“) zu seiner Klientel zählt. Der Artillerie-Freiwillige tanzt aber schon lange nicht mehr mit ihr.