Das Märchen aber nickte lächelnd zum Weidenbusch hinüber und warf Kußhändchen nach allen Seiten, dann flog es schnurstracks durch den grünenden, blühenden, duftenden Wald, über Felder und Gärten, in die Stadt, in das Haus, in die Stube hinein, wo der kleine Junge und das kleine Mädchen auf dem Fußschemel saßen und aufmerksam zuhörten, wie die Märchenmuhme ihnen die Geschichte von den Löwen- und den Bärenkindern erzählte, und als sie gerade sagte: »Die Bärenkinder aber waren so schrecklich unartig« – da rief der kleine Junge:
»Sieh', – sieh' doch, da ist das Märchen!«
Und das kleine Mädchen klatschte in die Hände und jubelte: »Das Märchen! das Märchen!«
Und wirklich, da stand das Märchen auf der Thürschwelle, seine Augen leuchteten, seine Haare glänzten wie die Sonne, und dann nickte und winkte es ihnen; die Kinder faßten sich bei den Händen, sprangen zur Thür hinaus, hinter ihm her und riefen und sangen immerfort:
»Das Märchen! Da ist das Märchen, das gar nicht kommen wollte!«
Es waren aber viele Kinder auf der Straße, die sahen das Märchen zwar nicht, aber sie riefen doch: Das Märchen, das Märchen! und tanzten hinter dem kleinen Jungen und dem kleinen Mädchen her, und so ging der Zug durch die Stadt zum Thore hinaus, als wenn der Rattenfänger von Hameln ihnen aufspielte. Die großen Leute, denen sie begegneten, blieben stehen und lachten und sagten:
»Ach, das ist ja ein Schmetterling, der heißt –« und dann nannten sie einen langen, lateinischen Namen. Und andere sprachen:
»Das ist ja ein Sonnenstrahl, und nun ist es Frühling geworden. Der Frühling ist eine natürliche, höchst angenehme, alljährlich wiederkehrende Naturerscheinung. Es ist gar nichts Märchenhaftes daran.«
Aber nun waren es der kleine Junge und das kleine Mädchen, welche lachten – sie wußten es ja viel besser. Sie liefen in den Wald hinein – da tanzten die Blumen mit den Elfen und Kobolden, und die Kinder waren mitten unter ihnen. Das Märchen schenkte ihnen den Frühlingswein aus Blütenkelchen, und sie lagen auf weichem Moos und guckten in den blauen Himmel hinein, von dem die weißen Wölkchen winkten und grüßten und weiter segelten.
Das Märchen aber wuchs und wurde größer und wurde eine liebliche Jungfrau und ein blühendes Weib; und dann wurde es ein liebes, eisgraues Mütterlein, und dann – ja, dann spann es sich wieder ein, wie eine Schmetterlingsraupe und kam lange, lange nicht mehr; nur zur Zeit der Wintersonnenwende, als die weißen Grüße vom Himmel an der alten Eiche im Walde vorüberwehten, da öffnete es die blauen Märchenaugen ein wenig und blinzelte um sich, und dann schlief es wieder ein und wartete auf den singenden, sausenden, brausenden Frühlingswind.
Und der kleine Junge und das kleine Mädchen wuchsen auch und wurden größer und schöner und wurden Mann und Weib; dann spannen sie sich auch ein, in sich und ihre Welt; und dann erzählten sie ihren Kindern und Kindeskindern das Märchen vom Märchen, das gar nicht kommen wollte, und endlich, endlich doch gekommen war. – –